Wenn die Mutter moderner Kampfsportspiele zur sechsten Runde einläutet, versammelt sich einmal mehr die ganze Welt – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn mit Street Fighter 6 und der World Tour als einer von vielen neuen Kernkomponente reißt CAPCOM auch die letzten Grenzen der effektreichen Prügelorgie ein und präsentiert sich dabei so zugänglich und gleichermaßen anspruchsvoll wie nie zuvor.
Die ganze Welt ist eine Arena
Wenn man sich plötzlich im Kampf gegen einen Kühlschrank wiederfindet und ein lauchiger Kaffeeverkäufer mit Backflips und Schlägen auftrumpft, kann das nur bedeuten, dass ihr euren Weg nach Metro City gefunden habt. Bei Final-Fight-Fans sollte alleine der bloße Name Begeisterung hervorrufen, aber auch Neuankömmlinge bekommen mit der urbanen Großstadtkulisse einen Schauplatz geboten, der einerseits als XXL-Tutorial für die wahren Herausforderungen des Spiels fungiert, andererseits auch einen tieferen Einblick in das umfangreiche Roster des Spiels offeriert. Bevor ihr die Metropole erkunden dürft, müsst ihr aber erstmal einen Zwischenstopp im Editor einlegen, um euch euren eigenen (leider über den gesamten Verlauf der circa zwanzig Stunden umfassenden Geschichte stumm agierenden) Charakter zu erstellen. Was die Macher hier an kreativen Optionen anbieten, ist wirklich maßstabverdächtig und lässt selbst die ausgefallensten Schöpfungen zu. Egal ob ihr euer Ebenbild im Detail nachbauen wollt oder irgendeine pinkhäutige Monstrosität mit komplett realitätsfernen Proportionen erschaffen wollt (“HERR WINKLEEEEER!”), der Editor liefert dafür passende Tools, ebenso aber auch vorgefertigte Optionen für einen schnellen Start.
Unsere eigentliche “Karriere” beginnen wir als Handlanger für die Unterwelt von Metro City. Mehr als langweilige Botengänge will man uns aber nicht anvertrauen, dabei haben wir wesentlich größere Ambitionen und wollen vor allem als Kampfsportler durchstarten. Viel mehr Story hat man im Grunde nicht zu bieten, also stellt im Vorfeld daran nicht allzu hohe Erwartungen, denn mehr als Zweckdienlichkeit kann man dem hauchdünnen roten Faden hier wirklich nicht bescheinigen. Man erkennt relativ zügig, dass der Modus eher dem Zweck dient, die zahlreichen Hauptcharaktere samt deren Fähigkeiten kennenzulernen. Die nehmen uns nämlich nach und nach unter ihre Fuchtel, von den dabei gelernten Tricks können wir immer drei gleichzeitig in beliebigem Durcheinander nutzen und im Anschluss aufleveln, wobei sich auch die Charakterwerte von Level zu Level stetig verbessern. Die Platzierung von RPG-Mechaniken inklusive Skilltrees innerhalb eines Beat ´em Up geht überraschend gut auf, auch wenn sich zum Ende hin ein recht wahrnehmbarer Grind einstellt, sofern man wirklich sämtliche Werte und Fähigkeiten maximieren will. Praktischerweise könnt ihr eure Schöpfung auch in den Mehrspielermodus mitnehmen, über den wir später nochmal detaillierter quatschen werden.
Alles in allem ist Metro City nicht nur für Neueinsteiger ein guter Anlaufpunkt für die ersten Schritte in Street Fighter 6, auch Veteranen können aufgrund der massiv erweiterten Mechaniken einiges dazulernen, denn hier ist jeder NPC ein potenzieller Gegner. Vom Streifenpolizisten bis zum Anzugträger könnt ihr hier wirklich jeden zum Showdown fordern. Virtuelle Credits, die ihr im Shop gegen zahlreiche kosmetische Items wie neue Outfits eintauschen könnt, verdient ihr euch nebenbei auch noch. Zum Glück hat CAPCOM darauf verzichtet, hier irgendwelche Shortcuts, Booster oder dergleichen anzubieten, weshalb im kompetiven Mehrspielermodus weiterhin Talent gewinnt, nicht die Größe der Brieftasche. Die World Tour ist als reine Solo-Erfahrung konzipiert worden, was eine sinnvolle Idee ist, denn sicher hätte man daraus auch einen großangelegtes Online-Hub basteln können, welcher sich aber der Erfahrung nach mangels Spielerinteresse in kürzester Zeit komplett entvölkert hätte. Und sich der ganze Modus inhaltlich nie sonderlich ernst nimmt, fallen negative Aspekte wie die überwiegend belanglosen Nebenaufgaben auch nicht zu schwer ins Gewicht. Lediglich die etwas dröge anmutende Präsentation der Stadt im Allgemeinen lässt sich schwer bestreiten. Mit der Detailverliebtheit und Immersion eines Yakuza darf man hier wirklich nicht rechnen.
Voll auf die Zwölf
All das könnt ihr aber wirklich nur als umfangreiche Aufwärmrunde bezeichnen, denn spätestens in den Mehrspielermodi trennt sich bekanntlich die Spreu vom Weizen. Insgesamt achtzehn grundverschiedene Kämpfer sind zu Beginn enthalten, weitere sollen mit der Zeit als kostenpflichtige DLCs nachgereicht werden. Im Vergleich zu dem anfänglich extrem dünn bestückten Street Fighter V gibt es hier vom Start weg wesentlich mehr Auswahl. Zu den beliebten Serienlieblingen wie Ryu, Ken, Chun-Li und Co. gesellen gleich sechs Neuzugänge, darunter der trinkfeste Luke oder die Ninjakämpferin Kimberly. Jeder Charakter verfügt über ein komplett unterschiedliches Move- und Fertigkeitenset samt eigenen Stärker und Schwächen. Ein TEKKEN 7 mag hier zwar wesentlich mehr auffahren, dafür punktet Street Fighter 6 von ersten Moment an mit einem hervorragenden Balancing und auch die Persönlichkeiten der einzelnen Kämper werden gut zur Geltung gebracht – generisch fühlt sich hier absolut nichts an. Und dank Crossplay spielt es keine Rolle, auf welcher Plattform ihr unterwegs seid.
Fighting Ground ähnelt als zweiter zentraler Modus am ehesten der klassischen Street-Fighter-Erfahrung. Hier könnt ihr wahlweise gegen Freunde oder Spieler aus aller Welt in zwanglosen und gewerteten Partien antreten, ebenso dürft ihr euch natürlich auch mit der K.I. kloppen. Ganz nebenbei gibt es noch einen umfangreichen Trainingsbereich, wo ihr eure Spielweise nicht nur in allen Belangen verbessern könnt, sondern sogar framegenau timen könnt. Street Fighter 6 ist leicht zu erlernen, aber schwer zu meistern und wenn ihr es in den Ranglisten mit den besten Spielern der Welt aufnehmen wollt, müssen jeder Angriff und jeder Block auf die Sekunde genau sitzen. Ein modernes Bedienschema ermöglicht es euch, auch schwierigere Kombos via einfachem Tastendruck auszuführen, während Puristen auch ein ganz klassisches Schema angeboten wird, welches einem auch komplexere Aktionen erlaubt. Einsteiger und Veteranen kommen also gleichermaßen auf ihre Kosten und beide Optionen haben ihre Daseinsberechtigung. PC-Spieler ohne Gamepad sollten übrigens gar nicht erst auf die Idee kommen, das Spiel ohne entsprechende Peripherie zu starten.
Last but not least wird euch mit Battle Hub ein weiteres offenes Areal angeboten, dass sich allerdings auf die Größe einer Spielhalle beschränkt…weil es sich dabei tatsächlich um eine solche handelt. Serienveteranen dürften beim Anblick der zahlreichen Automaten ordentlich Nostalgie verspüren. Das Ganze funktioniert wie eine Art Lobby, wo sich Spieler vor den Automaten quasi im Wartemodus parken und dort auf eine Herausforderung warten. Die Wartezeit kann man sich unter anderem mit einer Partie Street Fighter II oder Final Fight vertreiben, wer aber mit dem ganzen Lobbyzirkus nichts zu tun haben will, reiht sich via Menü bequem in die Warteschlange ein und verbringt die freien Minuten bis zum nächsten Match im Trainings- oder Arcademodus. Da wird ein bisschen früher als der Rest der Welt spielen durften – die wundervollen Privilegien des Medienjournalismus – war in der Lobby allerdings noch nicht viel los. Die wenigen Matches, die wir online gespielt haben, haben aber allerbestes Serienfeeling versprüht und dank des hervorragend optimierten Netcodes einen Heidenspaß gemacht!
Der nötige Drive
Bleibt ja eigentlich nur die wichtigste aller Fragen zu beantworten, nämlich wie sich Street Fighter 6 spielt. Das V-System des Vorgängers weicht nun einer komplett neuen Mechanik mit dem vielklingenden Namen Drive. Dabei handelt es sich um eine mächtige Neuerung, die sich auf insgesamt fünf verschiedene Kategorien aufteilt und zwangsläufig gemeistert werden muss, wenn ihr Anspruch auf das Siegertreppchen erheben wollt. Zieht ihr beispielsweise mitten in einer gegnerischen Angriffskombo den Drive Impact, absorbiert ihr insgesamt zwei Treffer, stoßt den Kontrahenten zurück und erhaltet eine komplette Kombo auf eurem Konto gutgeschrieben. Dieser Konter lässt sich zwar durch geschicktes Timing blocken, einen gewissen Grundschaden richten die Drives allerdings immer an. Weil ihr jede Partie mit einer komplett gefüllten Drive-Leiste startet, könnt ihr theoretisch gleich zu Beginn in die Vollen gehen und das komplette Arsenal an vernichtenden Schlägen, Kombos und EX Moves ausspielen, riskiert dabei aber, dass sich eure Leiste so schnell leert, dass ihr in eine Phase des Burnouts gelangt. Dann könnt ihr zwar immer noch alle regulären Angriffe nutzen, Blocks federn aber nicht mehr den kompletten Schaden ab und auch weitere Drives lassen sich für eine Weile nicht einsetzen.
Im Worst Case verschwendet ihr also nicht nur einen Großteil eurer mächtigsten Offensivfertigkeiten, sondern riskiert auch noch eure Defensive. Abzuwägen, wann der Gegner seinen Zug macht und darauf gut vorbereitet zu reagieren ist ein ganz zentrales Element innerhalb dieser neuen Mechanik, weshalb es auch so wichtig ist, sich damit genau auseinanderzusetzen. Dadurch liefert Street Fighter 6 die wohl spannendsten und unvorhersehbarsten Kämpfe der Seriengeschichte, denn selbst in aussichtslosen Situationen kann einem der kluge Einsatz der Drives in letzter Sekunde doch noch die Oberhand verschaffen. Als reguläres Beat ´em Up ist das Spiel bereits fantastisch, aber mit dem neuen System eröffnen sich derart viele taktische Möglichkeiten, dass sich jede dadurch gewonnene Partie ähnlich befriedigend anfühlt wie der Sieg über einen schwierigen Bossgegner in Dark Souls. Begleitet von einem kunterbunten Effektfeuerwerk fühlt sich jeder erfolgreich umgesetzte Drive jedes Mal an, als hätte man gerade ein Haus via Faustschlag eingerissen. Der Mix aus klassischem und modernem Gameplay funktioniert derart gut, dass ich mir gegenwärtig nicht vorstellen kann, wie man es zukünftig innerhalb des Genres noch in irgendeiner Form besser machen könnte.
Systemkampf
War der Vorgänger noch auf Basis der Unreal Engine 4 produziert worden, übernimmt nun die hauseigene RE-Engine, die zuletzt im Remake von Resident Evil 4 eindrucksvoll gezeigt hat, was sie auf dem Kasten hat. Gegenwärtig gibt es für mich keinen vergleichbaren Grafikmotor, der sich so effektiv auch für Konsolen der letzten Generationen optimieren lässt und dabei immer noch einen sehr soliden Kompromiss aus Leistung und Qualität bietet. Konstante 60 Frames sind grundsätzlich das Ziel auf jeder Plattform und für geschmeidiges, reaktionsbasiertes Gameplay Pflicht. Umso positiver bin ich über die Tatsache überrascht, dass Street Fighter 6 sogar auf den Basismodellen der Last-Gen-Konsolen während der Kämpfe nahezu ohne wahrnehmbare Bildrateneinbrüche auskommt. Lediglich innerhalb der World Tour und der damit verbundenen offenen Welt schwankt die Performance auf PlayStation 4 und XBOX One wahrnehmbar. Dort wird in maximal 1080p aufgelöst, die erweiterten Modelle schaffen 1440p. Im Vergleich zu PlayStation 5 und XBOX Series X|S wird aber deutlich, dass das nicht ohne Abstriche möglich ist. Mit Ausnahme der Series S wird in 4K aufgelöst, auffällig ist die merklich dichtere Vegetation innerhalb entsprechender Arenen und auch in Sachen Schattendarstellung, Beleuchtungs- und Reflektionsqualität, Kantenglättung sowie dem allgemeinen Texturdetail rennen die aktuellen Systeme ihren jeweiligen Vorgängern mühelos davon.
Das bedeutet nicht, dass Street Fighter 6 dort ein hässliches Spiel ist, aber die wahre Ästhetik des Spiels kristallisiert sich eben erst auf der aktuellen Hardware richtig heraus. Auf der schwächeren XBOX Series S muss man mit dynamischen Werten im Bereich 900-1080p Vorlieb nehmen, bekommt dort aber mit Ausnahme der Auflösung die besten Visuals im Niedrigpreissegment geboten. Und auch die Performance innerhalb der World Tour fällt dort merklich stabiler aus als auf den alten Plattformen. Die Portierung für PC sieht kaum besser aus als die Fassungen für XBOX Series X und PlayStation 5, Raytracing wird von keiner Plattform unterstützt. Störende Bugs sind über den gesamten Testlauf keine aufgefallen. CAPCOM liefert hier ein gut optimiertes Spiel ab, dass sich auf jeder Plattform seine Daseinsberechtigung verdient. Ein gelungener, vielseitiger Soundtrack und gewohnt gute (wahlweise englische oder japanische Sprecher) runden das Spektakel optimal ab. Und das gelungen implementierte haptische Feedback des DualSense lässt einen jeden Treffer spüren.
“Schon seit über fünfundzwanzig Jahren ist Street Fighter ein Garant für spannende Kämpfe, reihenweise kaputter Spielautomaten und wahrscheinlich tonnenweise ausgeleierter Joysticks. Der sechste Teil ist da glücklicherweise keine Ausnahme. Die taufrische Drive-Mechanik bringt eine bisher ungekannte Spannung und Dynamik ins nahezu perfekt ausbalancierte Gameplay, die neuen Charaktere stellen eine wunderbare Bereicherung für das bestehende Roster dar und im neuen – wenn auch visuell ziemlich dröge inszenierten – World-Tour-Modus kann man sich optimal für die Herausforderungen im Multiplayer vorbereiten. Dank mächtigem Editor sind selbst utopischste Schöpfungen kein Problem. Dabei sieht Street Fighter 6 innerhalb der Fights auch noch unverschämt gut aus und kann besonders auf aktuellen Konsolen und leistungsstarker PC-Hardware glänzen. Die Konkurrenz muss sich definitiv warm anziehen, denn gegenwärtig werdet ihr auf dem Markt keinen besseren Genrevertreter finden.”
- Grafisch furios in Szene gesetzte Kämpfe
- Hübsche Arenen
- Cel-Shading-Look mit Wiedererkennungswert
- Klasse animierte und detaillierte Hauptcharaktere
- Gute Mischung aus altbekannten und neuen Kämpfern…
- …die sich allesamt toll ins bestehende Universum einfügen
- Jeder Charakter verfügt über eine eigene Persönlichkeit inklusive einzigartigem Moveset mit Stärken und Schwächen
- Unglaublich starkes Gameplay…
- …das sich für Einsteiger gleichermaßen eignet wie für eingefleischte Veteranen
- Neue Drive-Mechanik bringt frischen Wind ins Genre
- Maßstabverdächtiger Trainingsmodus
- Exzellentes Balancing
- Umfangreiche Mehrspielerkomponente für jeden Anspruch
- Lokaler Koop
- Gut zwanzig Stunden umfassende World Tour
- Extrem mächtiger Editor
- Tonnenweise kosmetische Inhalte für den eigenen Charakter
- Mikrotransaktionen rein kosmetischer Natur
- Toller Soundtrack
- Gute englische und japanische Sprecher
- Sauber lokalisierte Untertitel
- Zugängliche Bedienung dank zwei verschiedenen Eingabeschemata
- Funktionelles Crossplay
- World Tour grafisch nicht auf einem Level mit dem Rest
- Belanglose Rahmenhandlung (World Tour)
- Zum Ende hin zäher Grind (World Tour)
- Hakelige Maus- und Tastatursteuerung
Entsprechende Rezensionsmuster sind uns freundlicherweise vorab von CAPCOM zur Verfügung gestellt worden.
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