Manchmal geschehen noch Wunder: In Zeiten, wo die Spieleindustrie Neuerungen scheut wie der Teufel das Weihwasser, wagt ein kleines Team aus französischen Entwicklern die Revolution. Mit Clair Obscur: Expedition 33 hat man eine komplett neue IP geschaffen, die nicht nur mit fantastischer Story und Grafik aufwartet, sondern einen auch spielerisch komplett abholt. Warum sich selbst aktuelle JRPGs davon eine dicke Scheibe abschneiden sollten, klären wir in unserem Test.


Entwickler: Sandfall Interactive
Publisher: Kepler Interactive
Plattform: PC | XBOX Series X|S | PlayStation 5
Veröffentlichungsdatum: 25. April 2025
Preis: ab 49,99€*
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Metacritic | OpenCritic | IMDB


La vie est merde
Nach einer nicht näher benannten Katastrophe liegt die Welt in Trümmern. Die letzten überlebenden Menschen haben sich in der Stadt Lumière zusammengefunden und sind seitdem der Willkür einer Gottheit ausgesetzt, die jedes Jahr gut sichtbar am Ende des Horizonts erwacht, um eine neue Zahl auf ihren gewaltigen Felsmonolithen zu malen. Daraufhin wird jeder Lumièraner, dessen Alter dieser Zahl entspricht, unweigerlich und ohne Aufschub zu Staub. 67 Jahre geht das jetzt schon so. Genau so lange versuchen die Menschen, diesem Schicksal zu entgehen und senden jedes Jahr eine neue Expedition über das Meer, um der verhassten Pinselschwingerin Einhalt zu gebieten. Bisher aber ohne Erfolg.

Kein Wunder also, dass auch die diesjährige Expedition nicht durchgehend vom Gelingen ihrer Mission überzeugt ist. Andererseits haben die meisten Teilnehmer ohnehin nichts mehr zu verlieren: Der Zähler hat mittlerweile die 33 erreicht und ein Großteil sucht lieber sein Glück in der Konfrontation mit der Göttin, als das letzte Jahr bis zur nächsten Gommage in Lumière zu verbringen, wo nur die Gewissheit des sicheren Todes wartet. Diese Meinung vertritt auch der 32-jährige Gustave, der gerade erst miterleben musste, wie sich seine ein Jahr ältere Herzensdame Sophie in seinen Armen aufgelöst hat. Gemeinsam mit gleichaltrigen Freunden und seinem Mündel Maelle setzt die Expedition 33 entschlossen auf die andere Seite des Meeres über.

Doch bereits kurz nach der Landung werden die ankommenden Streiter verheerend von einem geheimnisvollen älteren Mann dezimiert, der nach Rechnung der Malerin längst nicht mehr am Leben sein dürfte. Wie durch ein Wunder überlebt Gustave das Massaker und macht sich nach einer kurzen Phase der Desillusionierung auf die Suche nach weiteren Überlebenden, um den Kampf fortzuführen und dem Treiben der Göttin ein für alle mal ein Ende zu setzen…
Tour de Force
Was die kleine französische Entwicklerschmiede Sandfall Interactive hier mit kleinem Budget auf die Beine gestellt hat, straft jedes andere Studio samt Publisher, die dreistellige Millionenbeträge und mehr für die Entwicklung immer neuer innovationsloser Fortsetzungen aus dem Fenster werfen, hemmungslos mit Schande. Dem knapp vierzigköpfigen Team ist es nicht nur gelungen, mit überschaubarem Budget ein komplett frisches und wunderbar atmosphärisch-dystopisches Szenario zu erschaffen, sondern erzählt auch eine gleichermaßen packende wie emotionale Geschichte mit glaubwürdigen Charakteren in deren Mittelpunkt.

Je nach gewählten Schwierigkeitsgrad beschäftigt einen alleine die Story gute dreißig Stunden, wer keinen Winkel unerforscht lässt, kann locker das Doppelte einplanen. Langeweile kommt dabei nie auf, was nicht nur an den regelmäßig eingespielten und toll inszenierten Zwischensequenzen liegt, sondern auch an den vielen unerwarteten Wendungen, welche zum Finale in zwei möglichen Enden resultieren. Dabei ist das Spiel erzählerisch nicht nur in den epischen Momenten extrem stark, sondern ganz besonders in den leisen, dramatischen Augenblicken. In optionalen Gesprächen können wir unsere Mitstreiter kennenlernen und erfahren dadurch mehr über deren persönliche Motivationen, Ängste und Sehnsüchte.

Gleichzeitig macht es jede Menge Spaß, die Welt zu erkunden, was primär daran liegt, dass diese eindrucksvolle Mischung aus Belle Époque, Fantasy und einem Hauch Cyberpunk mit jedem Gebiet eine komplett andere visuelle Erfahrung offeriert und uns neben malerischen Wäldern sogar ein Unterwassergebiet erforschen lässt. Zugegeben, die meisten Areale sind relativ linear gestrickt, dafür aber trotzdem groß genug, um gerade noch ein gewisses Gefühl der Freiheit zu bewahren. Und ganz ehrlich: Nach den letzten, oft überproportional groß gestalteten Open-World-Szenarien der letzten Monate tut mir ein wenig Linearität unglaublich gut.
Épées, armes à feu et magie
Im Kern der Erfahrung ist Clair Obscur: Expedition 33 ein klassisches Action-RPG, welches sich spielerisch stark sowohl an klassischen, als auch modernen Japanvertretern orientiert. Dass es denen bereits seit einigen Jahren spürbar an Innovation mangelt, hat zuletzt unter anderem ein Final Fantasy XVI kläglich unter Beweis gestellt, wo man das rundenbasierte System zugunsten hektischer, oft unübersichtlicher und zudem auch noch fummeliger Echtzeitgefechte geopfert hat. Dass es gar nicht so schwer ist, Altbewährtes so zu modernisieren, dass es sich gleichermaßen vertraut wie frisch anfühlt, wird hier eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Und das gelingt paradoxerweise durch das Hinzuziehen einer Mechanik, von der wir lange Zeit froh gewesen sind, sie los zu sein.

Die Rede ist natürlich von den ikonischen QTE’s, die über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren gefühlt wirklich jedes Spiel heimgesucht haben und dabei Muskeln in unserem Daumen angesprochen haben, von denen wir bis dahin gar nicht wussten, dass sie überhaupt existieren. Sandfall Interactive kombinieren diese Mechanik hier mit einem klassisch-rundenbasiertem Kampfablauf. In der Praxis bedeutet das, dass ihr mit präzisem Timing die Wirkung einer Vielzahl von Angriffen dramatisch verstärken könnt, was von Anfang an wunderbar dynamisch von der Hand geht und sich auch nach Stunden nicht abnutzt. Eingehenden Angriffen kann man nicht nur ausweichen, sondern mit etwas Geschick sogar parieren, was in einem verheerenden Konter resultiert. Dadurch wird Leerlauf minimiert und auch zwischen den Zügen immer ein waches Auge verlangt.

Mit regulären Attacken generiert ihr Angriffspunkte, die ihr dann zeitnahe in deutlich mächtigere Fähigkeiten wie Zauber oder Nahkampfcombos einfließen lassen könnt. Gleichzeitig könnt ihr mit manuellem Zielen auch Schwachpunkte der angenehm abwechslungsreich gestalteten Gegner anvisieren und euch so noch vor dem ersten Zug einen entscheidenden Vorteil verschaffen – oder die Feinde ausschalten, noch bevor dieser überhaupt nötig wird. Jeder Charakter im Spiel verfügt zudem über einen eigenen Talentbaum, mit dem sich über den Verlauf des Spiels weitere Fähigkeiten freischalten lassen können. Zauberin Lune beginnt beispielsweise mit rudimentären Feuer- und Eiszaubern, kann später aber auch Blitze schleudern, Verbündete heilen und diese im Falle eines Ablebens sogar wiederbeleben.

Die jeweiligen Talentbäume bieten viel Raum zur persönlichen Individualisierung, wirken dabei aber zu keinem Zeitpunkt überladen. Da jedes Monster – im Spiel übrigens Nevrons genannt – über individuelle Resistenzen und Schwächen verfügt, lohnt es sich, die Truppe schon früh möglichst vielseitig aufzustellen. Mithilfe sogenannter Pictos könnt ihr jedem Charakter zusätzlich drei besondere Boni verleihen. Habt ihr mit einem davon vier Kämpfe erfolgreich absolviert, lässt sich der dazugehörige Effekt permanent zuordnen, ohne dass das entsprechende Picto ausgerüstet sein muss. Je mächtiger so ein Picto ist, desto mehr Punkte kostet dessen Verteilung. Wer das System erstmal durchschaut hat und es geschickt auszunutzen weiß, kann sich innerhalb weniger Stunden eine fast unbesiegbare Truppe zusammenstellen, was gleichermaßen Fluch wie Segen ist.

Auch um die regulären Ausrüstung solltet ihr euch kümmern, denn obwohl ihr abseits neuer Waffen keine weitere Ausrüstung im Spiel erhaltet, sondern allenfalls kosmetische Gegenstände, können auch die mit zunehmender Stufe mächtige Perks freischalten. Upgrades wie diese können im Lager durchgeführt werden, die durch leuchtende Flaggenposten auf der Karte markiert werden. Die findet ihr nicht nur in instanzierten Gebieten, sondern auch auf der schön gestalteten Weltkarte, auf der ihr euch frei bewegen könnt. Das Spiel warnt euch praktischerweise davor, wenn ihr ein Gebiet betretet, dem ihr stufentechnisch gegenwärtig noch nicht gewachsen seid. Eine vollständige Rast füllt nicht nur Lebenspunkte und Tränke wieder auf, sondern lässt auch reguläre Gegner neu spawnen – perfekt, um bei Bedarf ein paar zusätzliche Level zu grinden. Notwendig ist das aber abseits höherer Schwierigkeitsstufen, wo die Nevrons deutlich härtere Schellen austeilen, nicht.
Technologie avec de petites erreurs
Egal ob man bevorzugt auf PC oder Konsole spielt, zwei Wörter hatten zuletzt immer wieder das Potenzial, beiden Gattungen von Gamern den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben: Unreal Engine. Die fünfte Version des mächtigen Grafikmotors sorgt mit ihrem horrenden Leistungshunger und anhaltenden Kinderkrankheiten regelmäßig für Kritik, was sich in unserem gegenwärtig laufenden Test zu The Elder Scrolls IV: Oblivion Remastered leider einmal mehr bestätigt. Clair Obscur: Expedition 33 gelingt angesichts dessen das Unglaubliche, nämlich eine flüssig Darstellung über sämtliche Modi auf Konsole. Lediglich in den Zwischensequenzen fühlt sich das Geschehen etwas ruckelig an, was den Genuss aber nur minimal stört.

Der Leistungsmodus steuert maximal 60 Bilder pro Sekunde für ein möglichst flüssiges Spielgeschehen an und nutzt gleichzeitig diverse Skalierungstechniken, was in Kombination mit der relativ niedrigen Ausgangsauflösung zumindest auf dem Basismodell der PlayStation 5 sowie der XBOX Series X in einem merklich verwaschenen Gesamterlebnis resultiert, welches zudem regelmäßig von Artefakten heimgesucht wird. Mit einiger Entfernung vom Bildschirm ist das allerdings verschmerzbar. Der Grafikmodus löst eine ordentliche Ecke höher auf, was in einem sehr viel klareren Bild resultiert und auch Artefakte trotz ebenfalls aktiver Skalierung reduziert. Dafür werden hier wie immer lediglich 30 Bilder pro Sekunde erzielt, die aber immerhin einigermaßen zuverlässig.

Die PlayStation 5 Pro bietet das Beste beider Welten und kombiniert im Leistungsmodus höhere Auflösungen mit einer stabileren Bildrate. Ob die Entwickler hier zusätzlich mit PSSR gearbeitet haben, wissen wir leider nicht, da bisher einfach keine zuverlässigen Informationen vorliegen. Im Grafikmodus wird die Auflösung nochmal nach oben geschraubt, es bleibt bei 30 Bildern pro Sekunde. So oder so: Die Entwickler haben ihr Spiel in meinen Augen bestmöglich an die jeweilige Hardware angepasst, wobei die PlayStation 5 Pro mit gutem Abstand abseits leistungsstarker Rechenknechte die gegenwärtig beste Erfahrung offeriert. Aber ganz gleich, für welche Plattform ihr euch am Ende entscheidet, die Stärken der Engine – maßgeblich Licht- und Partikelkulissen – werden überall hervorragend ausgespielt und sorgen kombiniert mit den glaubwürdig animierten Charaktermodellen auch visuell für eine unvergessliche Reise.

Dazu gibt’s wahlweise französische oder englische Dialoge, sauber lokalisierte deutsche Untertitel lassen sich auf Wunsch selbstverständlich jederzeit zu- und abschalten. Die jeweiligen Sprecher liefern allesamt einen tollen Job ab, wer jedoch glaubt, dass aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Gustave und Robert Pattinson letztgenannter hinter dem Mikrofon Platz genommen hat, irrt: Niemand geringeres als Daredevil-Darsteller Charlie Cox leiht dem desillusionierten Weltenretter im Spiel seine Stimme. Noch viel mehr hat mich der Soundtrack begeistert, der so ziemlich zum Besten gehört, was über die letzten Jahre aus meinem Heimkinosystem direkt an meine Ohren gelangt ist. Was Composer Lorien Testard hier erschaffen hat, erinnert über seine knapp sieben Stunden lange Laufzeit an eine wundervolle Mischung aus Klassik und FromSoftware. Ich kann nur jedem mit einem gewissen Gespür für Musik raten, sich das komplette Ding mal auf Spotify und Co. anzuhören – ihr werdet es ganz sicher nicht bereuen, glaubt mir.

Die Bedienung geht gut von der Hand, mit Gamepad sogar noch ein bisschen besser als mit Maus und Tastatur. Speziell der DualSense macht mit seinen haptischen Features einmal mehr den feinen Unterschied aus, aber auch mit allen anderen Controllern könnt ihr euch auf eine zugängliche und präzise Eingabe freuen, die lediglich durch stellenweise etwas überladene Menüs gelegentlich ausgebremst wird.

„C’est magnifique! Clair Obscur: Expedition 33 ist genau die Art von frischem Wind, welche die Videospielindustrie seit geraumer Zeit so sehr missen lässt. Ein komplett unverbrauchtes und durchdachtes Szenario, eine exzellent inszenierte Geschichte mit vielschichten Charakteren und dazu ein Kampfsystem, welches klassische und moderne Elemente japanischer Rollenspiele gelungen zusammenführt. All das ohne ideologische Belehrungen, aufdringliche Monetarisierung…dafür aber zum Schnäppchenpreis von nicht einmal fünfzig Euro. Und auch wenn die Konkurrenz im Rennen um das Spiel des Jahres im Verlauf der kommenden Monate noch ordentlich anwachsen wird, ist schon jetzt völlig klar: Dieses Spiel dürft ihr nicht verpassen.“


- Frisches, unverbrauchtes und dystopisches Setting
- Toll erzählte, wendungsreiche Geschichte mit hoher emotionaler Dichte
- Abwechslungsreiche, detailverliebte Schauplätze
- Gut gemachte Zwischensequenzen
- Glaubwürdig inszenierte Charaktere mit stimmigen Persönlichkeiten
- Eindruckvolle Licht- und Partikelkulisse
- Mindestens 30 Stunden umfassende Geschichte
- Motivierendes und intuitives Kampfsystem...
- …welches bekannte Mechaniken klug modernisiert
- Unaufdringliche, gut implementierte Tutorials
- Fair ausbalancierte Schwierigkeitsgrade
- Pictos laden zum Experimentieren ein…
- …und können das Spielgeschehen komplett verändern
- Fair gesetzte Lagerpunkte
- Gut strukturierte und stets sinnvolle Talentbäume…
- …die ein hohes Maß an Individualisierung ermöglichen
- Hervorragende englische und französische Sprecher
- Filmreifer Soundtrack mit Gänsehautgarantie
- Überwiegend zugängliche Bedienung
- Gut genutzte DualSense-Features
- QTE’s lassen sich auf Wunsch automatisieren
- Unschlagbarer Preis

- Instanzierte Areale relativ linear
- Zwischensequenzen im Leistungsmodus sämtlicher Konsolen etwas ruckelig
- Picto-System schnell übermächtig
- Ausrüstung ausschließlich auf Waffen beschränkt
- Menüs gelegentlich etwas überladen
- Keine deutsche Synchronfassung




Entsprechende Rezensionsmuster sind uns freundlicherweise vorab von Kepler Interactive zur Verfügung gestellt worden.
*Unsere Links werden nicht mit einer Monetarisierung versehen
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