Es gab Zeiten, da hätte wohl niemand mehr damit gerechnet, dass Scorn jemals erscheinen wird. Seit acht Jahren ist der Mix aus Horror und Adventure in Entwicklung gewesen, nun ist das maßgeblich von den unverkennbaren Designs des legendären Schweizer Effektkünstlers H.R. Giger sowie dem Schriftsteller Zdzisław Beksiński beeinflusste Spiel endlich fertig. Schon die ersten Trailer haben auf dramatische Weise gezeigt, dass sich der Titel ausschließlich an ein höchst ekelresistentes Publikum richtet. Dass sich dahinter aber weit mehr als bloße Schockhascherei befindet, zeigt unser Test für PC und XBOX Series X|S.
Deus Ex Machina
Der namenlose Protagonist erwacht in einer Welt jenseits der schlimmsten nur vorstellbaren Albträume. Erschaffen von einer scheinbar ausgestorbenen Zivilisation, von deren Existenz nur noch halb verfallene Bauwerke zeugen. Nicht aus Mörtel und Stein erbaut, sondern einer verzerrten Symbiose von Fleisch, Knochen und Maschinen entsprungen. Wer die einstigen Bewohner waren und was uns überhaupt erst in diese Perversion geführt hat, verrät uns das Spiel anfangs ebenso wenig wie nähere Details zu unserer eigenen Identität. Scorn verzichtet vollständig auf Dialoge, Zwischensequenzen oder Sammelobjekte mit näheren Infos, sondern liefert über seine Umgebung gerade genug Hinweise, um die individuelle Interpretationsfähigkeit seiner Spieler zu beflügeln. Fans von stark narrativ geprägten Erfahrungen sollten um den Titel also einen großen Bogen machen.
Gleiches gilt für akute Kopfnussallergiker. Denn Scorn ist kein reinrassiger Shooter in der Tradition eines DOOM, sondern setzt seine Schwerpunkte neben dem Erkunden vor allem auf Umgebungsrätsel. So finden wir uns nach den ersten Minuten in einer Art verlassenem Minenkomplex wieder und müssen diesen zunächst wieder in Gang bringen, um weiterzukommen. Mit einem einfachen Schalterrätsel ist es da nicht getan, stattdessen erstrecken sich die verschiedenen notwendigen Schritte über mehrere Ebenen. Wie die miteinander verbunden sind und wo man überhaupt mit dem Knobeln beginnen soll, verrät das Spiel nicht. Das kann einen überwältigen und dafür sorgen, dass man nach stundenlangem Herumprobieren entnervt das Handtuch wirft. Ist der Anfang aber erst gemacht, greifen die vielen kleinen Räder rasch ineinander.
Findige Gehirnakrobaten dürften keine Mühe haben, alle Hürden erfolgreich zu meistern und den Abspann zu erreichen. In diesem Fall darf man circa sechs bis acht Stunden einplanen, was gemessen daran, dass Scorn streng linear aufgebaut ist und dementsprechend keinerlei Wiederspielwert offeriert, ein recht kurzes Vergnügen darstellt – besonders, weil das Ganze mit knapp vierzig Euro relativ hochpreisig veranschlagt wird. Weit kostengünstiger kommen Abonnenten des Game Pass weg, dort ist das Spiel nämlich vom ersten Tag an sowohl für PC als auch XBOX Series X|S enthalten.
Zwischen Neugierde und nacktem Horror
Bis sich einem die ersten Gegner in den Weg stellen, vergeht eine ganze Weile. Und spätestens dann offenbart Scorn seine zentrale Schwäche, nämlich die unausgeglichenen Shooterpassagen. Zum einen bewegt sich der Protagonist viel zu träge, um den überpräzisen Attacken der gerade einmal vier Gegnertypen effektiv ausweichen zu können, zum anderen ist die erste im Spiel verfügbare Waffe nur auf Nahdistanz effektiv und legt bereits nach zwei abgefeuerten Schüssen einen längeren Cooldown ein. Erst später bekommt man mit Pistole und Schrotflinte brauchbarere Werkzeuge in die biomechanisch entstellten Hände gelegt. Weil Munition aber immer ein knappes Gut bleibt, die meisten Gegner einen nach kurzer Flucht ohnehin in Ruhe lassen und die Mechaniken allgemein einfach sehr fummelig geraten sind, sollte man Feuergefechte nach Möglichkeit vermeiden, wann immer es möglich ist.
Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass ihr euch über euren gegenwärtigen Munitionsstand nur informieren könnt, indem ihr manuell ein dafür vorgesehenen Interface aufruft. Da kann es auch mal passieren, dass euch mitten im Gefecht erst die Munition und dann die Lebensenergie ausgeht. Letztere lässt sich nur bedingt mithilfe eines Tools wieder auffrischen, welches ebenso wie eure Munitionsreserve ausschließlich an teils viel zu weit voneinander entfernten Terminals aufgeladen werden muss. Dass Checkpoints ähnlich rar gesät sind und man im Worst Case minutenlang durch bereits gemeisterte Passagen schlurfen muss, verleiht der ganzen Komponente nur noch mehr Frustpotenzial.
Da kann man wirklich nur von einem Glücksfall sprechen, dass Waffengewalt nur in einem Kapitel eine zentrale Bedeutung spielt. Darauf komplett zu verzichten und stattdessen lieber noch ein paar visuelle Highlights wie das Aufeinandertreffen mit dem Riesengesicht oder dergleichen einzubauen, hätte Scorn im Fazit sicher noch ein paar zusätzliche Punkte eingebracht. Darin brilliert das serbische Entwicklerteam weitaus mehr als in der Gestaltung von aufgesetzten und im Kern völlig überflüssigen Shootouts, obwohl die Monster und Waffen ebenso eindrucksvoller aussehen wie der Rest des Spiels. Umso enttäuschender, dass man gerade in dem Bereich viel zu wenige epische Highlights vorgesetzt bekommt und das Spiel erst ganz zum Ende hin mehr Abwechslung wagt. Angesichts dessen gibt es sicher genug Gründe, Scorn vorzeitig beiseitezulegen. Doch die anhaltende Neugierde über die Geschichte, deren Ende und jene Dinge, die hinter der nächsten Ecke vielleicht auf uns warten, motiviert einen selbst in nervigen Momenten wie diesen zum Weiterspielen.
Giger wäre stolz
Auf technischer Ebene macht das Spiel einen rundum gelungenen Eindruck. Derart detailverliebte Kulissen sind mir schon lange nicht mehr untergekommen. Aber nicht nur dahingehend lässt die Unreal Engine 4 eindrucksvoll die Muskeln spielen, auch bei Beleuchtung und Partikelqualität muss sich Scorn nicht vor der AAA-Konkurrenz versteckt. Eine sensationelle Leistung, die das überschaubare Entwicklerteam hier vollbracht hat. Dass all das ohne gravierende Abstriche auf Hardware der letzten Generation nicht möglich gewesen wäre, wird einem bereits nach wenigen Minuten klar.
Umso erstaunlicher, dass die XBOX Series X trotzdem natives 4K bei überwiegend flüssigen 60 Frames pro Sekunde stemmen kann. Lediglich kleinere Ruckler sind mir im Verlauf meines Playthroughs aufgefallen, die sind aber so selten, dass man sie an einer Hand abzählen kann. Die schwächere Series S performt ähnlich gut, muss sich aber mit niedrigerer Auflösung begnügen. Die Portierung für PC kann ebenfalls überzeugen und bietet zudem ausreichend stufenweise Settings, um das Spiel auch auf Mittelklassehardware gut spielbar zu machen, wer das Maximum aus der Erfahrung herausholen will, kommt um einen leistungsstarken Rechenknecht jedoch nicht herum.
Ein ganz dickes Lob dürfen sich außerdem die Sounddesigner abholen. Jeder Untergrund erzeugt ein ganz eigenes Geräusch, die organischen Waffensounds jagen einem kalte Schauer über den Rücken und der unaufdringliche elektronische Soundtrack, welcher die quälende Stille gelegentlich durchbricht, passt perfekt zum Setting. Zur optimalen Entfaltung empfehlen wir dringend eine professionelle Heimkinoanlage oder einen Satz hochwertiger Kopfhörer. Erst dann entfaltet Scorn seine einnehmende Atmosphäre zur Gänze, ohne dabei je von billigen Jumpscares Gebrauch machen zu müssen. Der effektivste Horror spielt sich eben immer noch im Kopf ab. Und dass der hier so effektiv zündet, daran hat das Sounddesign maßgeblichen Anteil. Mit Gamepad lässt sich das Spiel übrigens in den Rätselpassagen etwas einfacher bedienen, dafür haben Maus und Tastatur bei den Feuergefechten die Nase vorne.
“Ich habe großen Respekt vor der Tatsache, dass die Entwickler ihr Herzensprojekt aller Unkenrufe zum Trotz nicht nur fertiggestellt haben, sondern dabei auch konsequent ihrer Vision treugeblieben sind. Der Mix aus Erkundung und Knobeleinlagen mag viele interessierte Spieler enttäuschen, die im Vorfeld auf einen etwas bleihaltigeren Titel mit höherer narrativer Komponente gehofft haben. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Shooterpassagen zu den größten Schwächen von Scorn zählen. In Sachen Umgebungsdesign und Atmosphäre ist das Spiel aber über sämtliche Zweifel erhaben und zählt maßgeblich zu den wohl schönsten Titeln auf Basis der auslaufenden Unreal Engine 4. Wer gewillt ist, die spärlich gestreuten Infos über die Geschichte selbst zu interpretieren, wird belohnt. Allen anderen bleibt angesichts der herrlich ekelerregenden Welt wenigstens genug Material für ein paar ausgewachsene Albträume. Gemessen an Umfang und Wiederspielwert sind vierzig Euro aber viel zu viel verlangt.”
- Fantastisches Umgebungsdesign
- Tolle Licht- und Effektkulisse
- Beklemmende Atmosphäre
- Hochphilosophischer Erzählansatz…
- …mit viel Raum zur Selbstinterpretation
- Fair gestaltete Rätsel
- Exzellente Soundkulisse
- Zugängliche Bedienung
- Relativ kurz
- Sehr wenige wirkliche Highlights
- Frustrierende Shootermechaniken
- Unzureichende, mitunter schlecht platzierte Checkpoints
- Nur ein Schwierigkeitsgrad
- Streng linear…
- …dementsprechend kaum Wiederspielwert
Entsprechende Rezensionsmuster sind uns freundlicherweise vorab von Ebb Software zur Verfügung gestellt worden.
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