In einer kleinen Stadt
Es kommt, wie es kommen muss. Nicht nur, dass einige Bürger Sam offenen Hass entgegenbringen, nach einem exzessiven Umtrunk bei der Trauerfeier kommt es auch noch zur Schlägerei mit seinem alten Rivalen Dennis. Benebelt vom ungesunden Mix aus Pillen und Hochprozentigem findet sich der erfolglose Journalist am nächsten Morgen völlig verkatert und mit Filmriss über sämtliche nachfolgenden Ereignisse in seinem Motelzimmer wieder. Dementsprechend groß ist der Schock, als sich in der Badewanne ein blutgetränktes Hemd wiederfindet. Panisch begibt sich Sam auf der Suche nach Dennis in die Innenstadt, wo gerade sämtliche Vorbereitungen für den jährlich gefeierten Tag des Bergmannes getroffen werden. Schließlich bewahrheiten sich die schlimmsten Befürchtungen, denn Dennis liegt erschossen in den Räumen der Lokalzeitung.
Auf der Suche nach Antworten holt Sam notgedrungen seine Ex ins Boot, die nach dessen Weggang eine Liason mit Nick begonnen hatte und nun einen weiteren Verlust beklagen muss. Bei den gemeinsamen Nachforschungen kristallisiert sich immer mehr heraus, dass sich hinter der heilen Fassade des Kleinstadtidylls ein düsteres Geheimnis verbirgt. Gleichzeitig keimt bei den Hobbydetektiven ein grausiger Verdacht auf: Ist der sonst so sicherheitsbewusste Nick etwa doch nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen?
Twin Peaks lässt grüßen
Maximal acht Stunden dauert ein Durchgang, wobei es genretypisch je nach euren getroffenen Entscheidungen mehrere mögliche Enden gibt, ein gewisser (aber kein definitiver) Wiederspielwert ist also gegeben. Das aber auch nur, wenn ihr wirklich jeden Winkel von Basswood mit der Lupe absuchen wollt. Nicht nur Fans von Twin Peaks werden sich in dem Städtchen sofort wie zuhause fühlen. Obwohl die Bewegungsfreiheit chronisch eingeschränkt ist und das höchste aller Gefühle ein begehbarer Straßenzug samt drei Lokalitäten darstellt, verliert man sich schnell in der gelungenen Atmosphäre des Spiels, in der Sonnenschein ein Fremdwort ist und wo jeder Bewohner mindestens ein schmutziges Geheimnis zu hüten scheint. Zwar kommt vom Apotheker bis zum Polizisten kein Charakter ohne typische Klischees ähnlich gestrickter Filme bzw. Romane aus, zum Setting einer klassischen Detektivgeschichte mit Mysteryeinschlag passt das aber hervorragend. Auch die sehr guten englischen Sprecher tragen dazu ihren Teil bei.
Das große Problem ist, dass Dontnod Entertainment diese vielversprechende Basis nur wenig zu nutzen weiß. Alleine Sam als Hauptfigur mit ständigen Identitätsfindungsschwierigkeiten ist der bisher schwächste Held in der gesamten Vita der französischen Entwicklerschmiede. Optisch könnte es sich um den Zwillingsbruder von Alan Wake aus dem gleichnamigen Spiel handeln, nur dass selbst der mehr Identifikationsmerkmale geboten hat. Und dafür, dass wir es hier angeblich mit einem chronischen Einzelgänger zu tun haben, entpuppt sich Sam als überraschend kommunikativ im Umgang mit seiner Umgebung. Selbst das Wiedersehen mit der entfremdeten Ex-Freundin gerät darüber überraschend warmherzig, wenn man sich denn innerhalb der verfügbaren Dialogoptionen dafür entscheidet. Aber auch wenn man den anderen Weg wählt und sich gefühlskalt, distanziert oder gar aggressiv verhält, hat das kaum nennenswerten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Dass sich Anna dann auch stets kritiklos für moralisch fragwürdige Vorhaben einspannen lässt, verwundert zusätzlich.
Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass Interaktionen mit den Bewohnern oft auf zwei, maximal drei Gelegenheiten beschränkt sind. Ob wir dem lokalen Hinterwäldler und seinen Freunden eine zimmern, die Schmähtiraden tapfer über uns ergehen lassen oder uns schlicht mit Worten zur Wehr setzen ist beispielsweise total egal, weil die Bande nach dem anfänglichen (und einzigen) Ausflug in die Innenstadt überhaupt nicht mehr auftaucht. Gleiches trifft in irgendeiner Form auf alle Nebencharaktere zu. Sogar die Gespräche mit Anna wollen abseits von gegenseitigen Schuldeingeständnissen über die gescheiterte Beziehung nie genügend Tiefe entfalten, um die gemeinsame Aufklärung der immer zahlreicheren Todesfälle nachvollziehbar zu gestalten. Was das angeht, verschwenden die Macher an allen Ecken und Enden Potenzial. Kein Vergleich zu Life is Strange also, wo man sich über die Zeit mit fast jedem Charakter irgendwie verbunden gefühlt hat, ob nun in Freundschaft oder Abneigung. Danach sucht man hier vergeblich, denn Twin Mirror traut sich nie wirklich, abseits der Oberfläche zu agieren.
CSI: Basswood
Das schließt ebenso die gelegentlich auftretenden Ermittlungssequenzen ein, in denen Sam einen bestimmten Verlauf rekonstruieren muss. Obwohl einem das Spiel stets mehrere Lösungshinweise anbietet, aus denen man dann die richtige Schlussfolgerung ziehen muss, gibt es keinerlei Raum für Fehler, weil das Spiel zum Fortschreiten in der Handlung gar nichts anderes erlaubt als eine richtige Lösung. Je öfter man versagt, desto eindringlicher werden die automatisch abgespulten Hinweise. Trial and Error führen also zwangsläufig immer zum Erfolg, was ziemlich unbefriedigend ist, weil man sich bei allem doch die Frage stellt, wie sich das Spiel denn basierend auf falschen Annahmen entwickeln könnte. Man stelle sich vor, dass man die ganze Zeit über einem Irrtum nachrennt! Was für eine moralische Zwickmühle das wäre, mit der man sich hätte auseinandersetzen müssen. Für ein auf Entscheidungen basierendes Spiel ist diese forcierte Linearität natürlich kaum produktiv. Das übereilt herbeigeführte Ende, welches zudem eine Menge Fragen unbeantwortet lässt, begrüßt man unter diesen Umständen beinahe.
Dabei ist Twin Mirror im Ansatz echt ein gutes Spiel mit spannender Prämisse geworden, beides geht aber angesichts der aufgesetzten Mechaniken und der blassen Charaktere einfach viel zu schnell unter. Rätsel aller Art sind entweder viel zu leicht lösbar, oder lassen einen ewig auf der Suche nach Hinweisen in der Pampa irren. Getroffene Entscheidungen entfalten entweder zu wenig oder zu spät spürbares Gewicht. Selbst innovative Ideen wie der Gedankenpalast, in dem wir uns an vergangene Ereignisse erinnern oder versuchen, zukünftige Ereignisse vorauszuahnen, ist nicht viel mehr als ein Abspulen von Optionen. Die gelegentlich auftauchenden psychischen Zusammenbrüche von Sam resultieren in hektischen Minispielen, welche den Spielfluss eher bremsen als ihn zu unterstützen. Und „Er“, der als imaginär-konträres Ich von Sam regelmäßig unaufgefordert seinen Senf zu allem abgeben muss, verliert sich nach gutem Auftakt schnell in einem immer nervigeren Nebenaspekt, dessen Moralhammer einen quasi dazu zwingt, eigenständiges Denken komplett aufzugeben. Auch hier wäre mehr möglich gewesen. Die Auseinandersetzung mit einer dunklen Seite zum Beispiel, der man sich früher oder später in immer aggressiveren Kämpfen stellen muss. Hier allerdings verkommt „Er“ zu einer Art uneingeladenem Gast auf einer Geburtstagsfeier, der uns vorschreiben will, welches Geschenk wir öffnen sollen und wie wir dieses im Anschluss zu bewerten haben.
Einerseits ist es löblich, dass Dontnod Entertainment nicht müde wird, immer neue sozialkritische Aspekte in den Fokus seiner Werke zu stellen und sich dabei mechanisch konsequent auf neue Pfade zu wagen. Nach dem meisterhaften Life is Strange, wo nahezu jedes Element perfekt ineinandergreift, kann man sich nur allzu gut vorstellen, wie groß der Erwartungsdruck auf den Machern lastet. Nichts was danach kam, nicht einmal die direkte Fortsetzung, konnte Fans und Kritiker ähnlich überzeugen. Vampyr, Tell me Why und Co. sind allesamt keine schlechten Spiele, aber eben auch nicht preisverdächtig. Was nützen eine atmosphärische Umgebung und eine interessante Rahmenhandlung, wenn Mechanik und Charaktertiefe konsequent unterdurchschnittlich abschneiden? So sehr ich die Spiele von Dontnod stets freudig erwarte, so enttäuscht bin ich mittlerweile am Ende über die Ergebnisse. Wenn das so weitergeht, droht dem Entwickler dasselbe Schicksal wie einst Telltale Games. Die haben mit The Walking Dead auch erst einen Megahit abgeliefert und sind dann nach dem Motto Quantität statt Qualität in der Insolvenz verschwunden.
Hinter der Fassade
Das Twin Mirror die Unreal Engine 4 nutzt, sieht man dem Spiel abseits der ansehnlichen Partikeleffekte und Wasserspiegelungen kaum an, denn auch dieses Mal setzt Dontnod auf einen typisch minimalistischen Look mit comicartigem Einschlag. Das muss man mögen, anderenfalls wird man das Geschehen wahrscheinlich eher als grafisch veraltet betrachten. Besonders die Charaktere wirken dadurch arg hölzern, was Mimik und Animationen angeht. Gleichzeitig haben wir es hier mit einem Titel zu tun, der ganz auf die Hardware der letzten Konsolengeneration zugeschnitten ist, weswegen weder PlayStation 5 noch XBOX Series X|S irgendwelche Vorteile abseits kürzerer Ladezeiten offerieren. Auf den Basismodellen muss sich das Spiel mit 30 Frames pro Sekunde und Auflösungen von maximal 1080p zufrieden geben, wobei die XBOX One S im Gesamtvergleich etwas weniger stabil performt als das Gegenstück von Sony.
Spannender verhält es sich bei den erweiterten Modellen. Wie uns auf Nachfrage mitgeteilt wurde, dürfen sich Spieler dort nicht nur über höhere Texturqualität und bessere Beleuchtung freuen, sondern auch über höhere Auflösungen. Und obwohl wir dieses Mal keine genauen Messungen vornehmen konnten, vermute ich hier auf PlayStation 4 PRO und XBOX One X ebenso wie auf den neuen Konsolen 1440p mit anschließendem Upscale auf 4K. Für alles andere sieht das Geschehen einfach nicht scharf genug aus. Gleichzeitig wird die Bildrate entsperrt, was theoretisch Frameraten von bis zu 60 Bildern pro Sekunde ermöglicht. Und gerade das könnte für Besitzer der erweiterten Modelle problematisch sein. Dort vernimmt man nämlich teilweise ein munteres Hin- und Herhüpfen, welches besonders in Außenarealen mit viel Vegetation deutlich spürbar wird. Hier glänzen PlayStation 5 und XBOX Series X dann doch und schaffen es, abseits merklicher Einbrüche zu Beginn und später in der Kommune dauerhaft geschmeidige 60 Frames pro Sekunde zu erzielen. Es ist aber anzunehmen, dass zukünftig keine weiteren Optimierungen für die neuen Systeme erfolgen werden. Ein Lock für die erweiterten Modelle sollte aber dringend in Bedacht gezogen werden.
Wie immer zum Abschluss ein letztes Wort zu Soundtrack und Bedienung. Schon seit jeher hat Dontnod ein erstaunlich gutes Händchen für die passende musikalische Untermalung bewiesen. Twin Mirror stellt da zum Glück keine Ausnahme dar. Die bewusst etwas trostlos klingenden, langsamen Stücke passen gut zum Spielgeschehen, übertönen allerdings ohne Nachjustierung in den Optionen gegebenenfalls die Dialoge. Besonders Besitzer von Heimkinoanlagen werden wahrscheinlich nachträglich etwas am Regler schrauben müssen. Die Steuerung geht über sämtliche Eingabegeräte weitestgehend zufriedenstellend von der Hand, wobei ich über Gamepad häufig Probleme damit hatte, Orte und Gegenstände von Interesse präzise anzuvisieren. Besonders nervig wird das, wenn sich in direkter Linie zwei Objekte bewegen. Auch hier könnten die Entwickler nachträglich nochmals Hand anlegen.
Fazit und Wertung
„Ich mag zwiegespaltene Charakere. Mord- und Detektivgeschichten. Und ein düsteres Setting, unter dessen Dach sich all das vereint. Twin Mirror hat all diese Grundzutaten und damit Potenzial, das arg dünne Adventurejahr 2020 auf der Zielgerade doch noch gelungen abzuschließen. Doch am Ende will mich der neueste Streich von Dontnod dann doch nicht so recht überzeugen. Zu schwer wiegt der blasse Protagonist in meinen Augen, zu spät entfalten sich wirklich spürbare Konsequenzen und zu oft geraten die Auseinandersetzungen mit der inneren Stimme zur nervigen Moralprüfun. Zu viel Potenzial wird bei Gedankenpalast, Rätselbewältigung und Nebencharakteren vergeudet, als dass ich darüber ohne weiteres hinwegsehen könnte. Die schaurige Kleinstadtatmosphäre und gute Sprecher entschädigen dafür leider nicht einmal ansatzweise, zu schnell kommt das Ende, zu viele Fragen bleiben unbeantwortet. Hier wurde leider mehr versprochen, als letztendlich geboten wird.“
PRO:
+ Atmosphärisches Kleinstadtambiente
+ Ansehnliche Partikeleffekte und Spiegelungen
+ Gelungene Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit, Trauer und psychischen Problemen
+ Theoretisch interessantes Konzept der inneren Stimme
+ Mehrere mögliche Enden erhöhen Wiederspielwert
+ Kapitel können einzeln wiederholt werden
+ Passende musikalische Untermalung
+ Sehr gute englische Sprecher
+ Intuitives Eingabeschema über sämtliche Peripherie
CONTRA:
– Uninteressanter Protagonist
– Nebencharaktere können sich kaum entfalten
– Auseinandersetzungen mit „Er“ zunehmend nervig…
– …da sie bestimmte Entscheidungen moralisch forcieren
– Gedankenpalast ist nicht viel mehr als eine Art Kopfkino…
– …und wird höchstens in Ermittlungen brauchbar utilisiert
– Teils frustrierende Minispiele…
– …die unnötig Tempo aus der Handlung nehmen
– Unausgegorene Rätselbalance
– Überhastetes Ende…
– …welches viele Fragen offenlässt
– Insgesamt recht kurz
– Konsequenzen entfalten sich erst sehr spät…
– …und fühlen sich nur selten gewichtig an
– Fehlentscheidungen werden nie bestraft…
– …was viele interessante Entwicklungsmöglichkeiten komplett verhindert
– Texturnachlader und gelegentliche Beleuchtungaussetzer
– Wankelmütige Bildrate auf PlayStation 4 PRO und XBOX One X
GESAMTWERTUNG: 6.0/10
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