Im Gebirge hört dich niemand schreien Hinter der noch jungen Nicole Wilson liegen harte Zeiten: Als zu ihren Kindheitstagen herauskam, dass Papa Leonhard – nebenbei bekannter Astrophysiker und Schriftsteller – eine Affäre mit der erst sechzehnjährigen Rachel Foster laufen hatte, schnappte sich die betrogene Mama kurzerhand das einzige Kind und verließ mit uns das bis dato gemeinsam geführte Familienhotel hoch in den Bergen von Montana im Eiltempo. Doch damit war das Drama längst nicht an seinem Ende angelangt, denn Rachel wurde schwanger und starb wenig später unter geheimnisvollen Umständen. Dem gewaltigen Medieninteresse folgte schließlich die polizeiliche Erkenntnis, dass es sich bei dem Todesfall um Selbstmord gehandelt haben musste und legte den Fall rasch zu den Akten.
Ende schlecht, alles schlecht?
Der anfänglichen Faszination über das atmosphärisch extrem stimmig-schaurig umgesetzte Interieur des Hotels steht rasch die Tatsache gegenüber, dass man sich zwar alles nach und nach ansehen kann, aber lediglich mit einem Bruchteil der zahlreichen dort auffindbaren Gegenstände wirklich interagieren kann. So hält einen das Spiel konsequent an der kurzen Leine und beraubt einen sämtlicher Eigeninitiative, hier und dort vielleicht noch zusätzliche Informationen und Hintergründe zu erhaschen. Alles, was für die Geschichte wichtig ist, muss früher oder später nämlich sowieso mal betrachtet oder benutzt werden, weswegen man auch ebenso gut einfach warten kann, bis es soweit ist. Dadurch verschenkt The Suicide of Rachel Foster permanent Potenzial wenn es darum geht, die Umgebung mit maximalem Effekt und als Werkzeug spielerischer Neugierde einzusetzen. Und wo wir schon von Werkzeugen reden: Im Laufe des Spiels erhalten wir immer wieder neue Gadgets, darunter ein Kurbellicht als provisorische Taschenlampe oder sogar ein hochsensibles Richtmikrofon. Interagieren darf man mit den Gegenständen aber wieder erst, wenn das Spiel auch deren Einsatz verlangt. Ärgerlich: Ein-zweimal genutzt wird die neue Ausrüstung für den weiteren Spielverlauf auch schon wieder uninteressant. Richtige Rätsel gibt es aber nicht, stattdessen muss Nicole jeden Tag kleinere Aufgaben erfüllen, um automatisch zum nächsten Tag und damit zur nächsten „Mission“ zu gelangen. Eine Dose Bohnen aufzutreiben und diese in der Mikrowelle zu erhitzen klingt zunächst wie ein einfacher Task zum Einstieg, viel komplizierter als das sind aber auch die folgenden Aufgaben nicht. Wiederspielwert? Fehlanzeige.
Trotz all dieser Einschränkungen und trotz des enttäuschenden Endes hat mich das Timberland Hotel in der verschwinden kurzen Spielzeit aber trotzdem irgendwie in seinen Bann gezogen. Denn trotz fataler Storyschnitzer im Finale wartet The Suicide of Rachel Foster mit zwei interessanten und vielschichtigen Charakteren auf, die man ausschließlich durch ihre jeweiligen Stimmen kennenlernt. Immerhin haben die Entwickler sowohl Nichole als auch Irving mit hervorragenden, aber eben ausschließlich englischsprachigen Sprechern besetzt, liefern dafür aber sauber lokalisierte Untertitel für verschiedene Sprachen, darunter natürlich auch Deutsch. Außerdem habe ich seit langem nicht mehr so ein Unbehagen, bzw. ein so stark ausgeprägtes Gefühl der Beklemmung beim Erkunden einer Spielumgebung verspürt. Dazu hat das grandiose Sounddesign eine Menge beigetragen, besonders über Kopfhörer ist die Immersion ähnlich stark wie beispielsweise in Hellblade: Senua´s Sacrifice und sorgt immer wieder für nervöses Zusammenzucken.
Licht und Schatten
Dass dabei auch technisch (fast) alles stimmt, verdanken wir in erster Linie der ungebrochenen Stärke der Unreal Engine 4, Licht- und Partikeleffekte realitätsnah darstellen zu können. Die Liebe zum Detail sieht man dem Spiel aber auch sonst überall an. Gerade in nativem 4K hat die Kulisse gelegentlich etwas fotorealistisches an sich, weil dann die vielen feinen Texturen an Wänden, Mobiliar und Co. richtig genial ins Auge stechen. Könnte man nur die Unschärfefilter abschalten, welche von den Entwicklern zusätzlich implementiert worden sind und die in ihrer Wirkung etwas zu extrem geraten sind, wäre es noch besser gewesen. Horror entsteht nämlich in erster Linie im Kopf und muss nicht permanent mit solchen Stilmitteln forciert werden, solange es an anderer Stelle genug Input für den Verstand gibt.
Die stellenweise atemberaubende Optik hat aber auch ihren Preis. In allerhöchsten Auflösungen und maximaler Detailstufe bekommen selbst die gegenwärtig stärksten Grafikkarten ordentlich zu tun, wobei man auch mit 2K oder Full HD immer noch viel geboten bekommt. Über die Auflösungen lässt sich dafür jede Menge Performance gewinnen, weshalb Besitzer von etwas betagterer Hardware hier primär ansetzen sollten. Die Bedienung geht übrigens wunderbar von der Hand, egal ob ihr das Timberland Hotel lieber mit Maus und Tastatur oder via Gamepad erkunden wollt. Viele Eingabeoptionen gibt es ohnehin nicht, ihr lauft, interagiert und greift auf eure Gadgets zu, das war es dann auch schon.
Etwas genervt hat mich in der Hinsicht lediglich, dass Nicole im normalen Tempo fast schon schildkrötenagiert beschleunigt, während die schnelle Fortbewegung meiner Meinung nach gerade mal normaler Schrittgeschwindigkeit entspricht. Das macht gerade das wiederkehrende Element des Backtrackings mit der Zeit zu einer kleinen Zerreißprobe für sich. Punktabzug gibt es außerdem für das nutzerunfreundliche Speichersystem, denn pausieren dürft ihr immer nur zu Beginn eines neuen Kapitels. Weder könnt ihr zwischendurch manuell euren Fortschritt sichern, noch bietet das Spiel abseits des Kapitelneustarts irgendwelche Rücksetzpunkte. Und das ist mir dann doch ein bisschen zu viel Neunziger.
Fazit
„In der Kürze liegt die Würze – bei Gamern ist das alles andere als ein beliebtes Sprichwort. Und tatsächlich: Zwei, vielleicht drei Stunden, dann sieht man bereits den Abspann über die Mattscheibe flimmern. Allerdings kostet das Mystery-Adventure aus Italien dafür kaum mehr als eine Kinokarte. The Suicide of Rachel Foster bietet eine im Kern spannende wie wendungsreiche Story und setzt sich dabei gleichzeitig mit dem schwierigen Thema Selbstmord auseinander, zwei interessante Hauptcharaktere gibt es obendrauf. Die strenge Linearität des Spielablaufs und das enttäuschende, weil extrem widersprüchliche Ende sorgen aber gleichzeitig für viel verschenktes spielerisches Potenzial im sonst so atmosphärischen Timberland Hotel, dass einen zudem nie auch nur ansatzweise zu fordern weiß.“
PRO:
+ Extrem atmosphärische Szenerie
+ Fantastische Licht- und Schattenstimmungen
+ Wendungsreiche, spannende Story…
+ …die das schwierige Thema Suizid sehr behutsam angeht
+ Greifbare Charaktere
+ Stetiges Gefühl von Beklemmung
+ Vor allem über Headphones sensationell immersive Klangkulisse
+ Sehr gute (englische) Sprecher
+ Sauber lokalisierte Untertitel
+ Makellose Bedienung über sämtliche Eingabegeräte
CONTRA:
– Überraschend kurz
– Enttäuschendes, weil völlig sinnentfremdetes Ende
– Streng linearer Spielablauf…
– …daher keinerlei Wiederspielwert
– Verschwindend geringe Möglichkeiten zur Umgebungsinteraktion
– Gadgets verschwinden viel zu schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit
– Etwas zu gemütliches Bewegungstempo
– Kein Schnellspeichern, aktuelles Kapitel muss stets neu begonnen werden
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