Pokémon Karmesin & Purpur

Pünktlich zum Release von Pokémon Purpur und Karmesin wurde nicht nur Ash Ketchum nach jahrzehntelangen Bemühungen endlich zum World Champion gekürt, auch die Marke selbst ist mittlerweile derart wertvoll, dass selbst Apple und Co. ihr nicht das Wasser reichen können. Doch woran liegt das, wenn man bedenkt, dass zumindest die Spiele gerade in den letzten Jahren qualitativ immer weiter abgestürzt sind und man eine dicke Nostalgiebrille aufsetzen muss, um die teils gravierenden Mankos ignorieren zu können? Ob die neuesten Teile der stagnierenden Reihe endlich zu alter Größe verhelfen können, oder ob doch wieder überwiegend alles beim Alten bleibt, klärt unser Test. 

 
 
 
 
 
Entwickler: Game Freak
 

Publisher: Nintendo

Plattform: Nintendo Switch

Veröffentlichungsdatum: 18. November 2022

Preis: ab 54.99€

Altersfreigabe: ab 6 Jahren


Ungeschnitten
Mikrotransaktionen


Die Qual der Wahl

Zumindest der Spielbeginn fühlt sich überaus vertraut an: Als wahlweise männlicher oder weiblicher angehender Pokémontrainer verlassen wir unser gut behütetes Elternhaus auf der mediterran anmutenden Region Paldea, um die absolute Nummer #1 unter den Trainern zu werden. Und weil man auch dafür heute zumindest über eine anständige Grundausbildung verfügen muss und seine Zeit nicht mehr einfach herumlungernd im hohen Gras verbringen kann, wartet im Anschluss an die Charaktererstellung erstmal ein Kurs an der lokalen Akademie auf uns. Bevor uns dort allerdings beigebracht wird, wie man Pokémon fängt und bekämpft, steht uns einmal mehr eine schwere Wahl bevor: Mit welchem Pokémon wollen wir beginnen? Felori, Kwaks und Krokel heißen die neuen Starter, ihres Zeichens klassische Vertreter der Gattungen Pflanze, Wasser und Feuer. Und weil mir schon damals zu den Zeiten von Pokémon Rot & Blau auf dem Schulhof eingeprügelt wurde, dass man IMMER mit Feuer beginnt, habe ich das auch dieses Mal getan – obwohl mein Herz auf ewig Schiggy gehören wird.  

Niedlich sind sie alle, trotzdem dürfen wir wie immer nur ein Pokémon als Starter auswählen.

Im Anschluss wartet ein ziemlich langwieriges Tutorial auf uns, welches gerade Kennern der jüngeren Vorgänger inklusive Pokémon-Legenden: Arceus gar nicht brauchen, weil sich spielmechanisch seitdem nicht viel geändert hat. Überspringen lässt sich der Grundkurs allerdings nicht, dafür lernen wir im Verlauf ein paar wichtige Charaktere kennen und treffen dabei auch erstmals auf unsere Konkurrentin Nemelia, die dasselbe Ziel wie wir verfolgt und uns im späteren Spielverlauf noch häufiger begegnen wird. Am Ende der Akademie wartet dann zur Belohnung für die aufgebrachte Geduld der wohl wichtigste Helfer für die kommenden Aufgaben auf uns, nämlich je nach Edition Koraidon oder Miraidon. Dabei handelt es sich zwar ebenfalls um Pokémon, über Kampffertigkeiten verfügen die ausnahmsweise aber nicht. Dafür können sich die Formwandler in allerlei praktische Gefährte verwandeln, auf deren Rücken wir nicht nur schwimmen, sondern auch durch die Luft gleiten und über den Boden düsen dürfen. Ein Großteil der Formen schalten wir jedoch erst im Verlauf der Geschichte frei. 

Miraidon kann zwar nicht kämpfen, transformiert sich dafür aber in ein vielfältiges Reisegefährt.

Und die präsentiert sich trotz Bemühungen, etwas mehr Abwechslung in das altbekannte Geschehen zu bringen, letztendlich doch wieder ziemlich dürftig. Gleich drei verschieden Pfade müssen erfolgreich beschritten werden, um den Platz an der Trainerspitze einnehmen zu dürfen: Der Weg des Champs bringt uns ganz wie in alten Zeiten nach und nach mit insgesamt acht Arenaleitern in Kontakt, die es zu besiegen gilt, ehe uns als Belohnung die Teilnahme an der Pokémon-Liga winkt, wo die Besten der Besten aufeinandertreffen. Der Pfad der Legenden stellt unser Können gegen fünf Herrscher-Pokémon auf die Probe. Dabei handelt es sich um besonders große und dementsprechend auch starke Varianten regulärer Pokémon. Und Die Straße der Sterne schickt uns Undercover in die fünf Fraktionen von Team Star, abtrünnige Akademiker die sich jeweils auf einen Typ Pokémon spezialisiert haben und von mächtigen Anführern geleitet werden.

Fade Pfade

Klingt auf dem Papier erstmal toll und facettenreich, entpuppt sich in der Praxis aber als ziemlich uninspirierter und spielerisch zudem kaum fordernder Aufguss altbekannter Elemente. Mit einem gleichwertig guten Team sind die Herrscher-Pokémon nämlich ebenso leicht zu bezwingen wie alles andere auch. Und die immer gleich ablaufenden Herausforderungen der Team-Star-Kampagne, wo man statt Echtzeitkämpfen zwei Pokémon zum automatischen Gefecht entsendet, verkommen bereits nach wenigen Durchgängen zu einer schrecklich repetiven Komponente, die einem kaum mehr gestattet als zuzusehen. Und auch die spielerische Freiheit, die solche Pfade ja eigentlich bieten sollten, wird durch die künstlichen Grenzen in Paldea schnell ad absurdum geführt. Die lassen sich nämlich erst passieren, wenn Miraidon/Koraidon die dazu nötige Gestalt erlernt haben, was euch alternativlos dazu zwingt, den vorgegebenen linearen Erzählpfaden zu folgen. Das bedeutet natürlich auch, dass ihr die Arenaleiter nicht in einer beliebigen Reihenfolge herausfordern dürft. 

Die Feuer-Fraktion vom Team Star liebt es heiß. Blöd nur, dass die dazugehörigen Kämpfe keinerlei Spannungsfunken entstehen lassen.

Das alles ist besonders enttäuschend, weil Pokémon Karmesin & Purpur ja maßgeblich mit dem Konzept einer offenen Welt werben. Wenn diese aber wie hier doch an allen Ecken und Enden eingeschränkt wird, muss ich mich fragen, ob die Entwickler jenes Konzept überhaupt grundlegend verstanden haben. Dabei hätte man das Ding relativ einfach lösen können, indem man die jeweiligen Gebiete mit bestimmten Stufenanforderungen versieht. So hätte man sich zwar frei in Paldea bewegen können, wüsste aber angesichts überlegender Pokémon und Trainer, dass man hier noch keinen Blumentopf gewinnen kann. Zwar verfügen die Spiele nicht über ein Skalierungssystem, weshalb es schonmal vorkommen kann, dass wir auf Pokémon treffen, die einige Stufen über unseren stehen, weil die Kämpfe einem aber selbst dann nicht viel Können abfordern, verpufft das gesamte Prinzip komplett im Nichts. Ist ja auch viel einfacher, einfach ein Bergmassiv in die Gegend zu pflastern und zu sagen: „Bis hierher und nicht weiter!“ 

Kämpfen bis zum Ziel

Am grundlegenden Prinzip der Kämpfe haben die Macher nur wenig geändert, die klassische Formel funktioniert auch nach über zwanzig Jahren immer noch ungebrochen gut. Jeder Typ Pokémon ist gleichzeitig besonders effektiv wie schwach gegenüber einem anderen. Neu ist dagegen, dass man seine Taschenmonster wie schon in den Team-Star-Herausforderungen automatisiert auf wilde Pokémon hetzen kann. Das gibt zwar weniger Erfahrungspunkte als ein regulär geführtes Gefecht, spart euch auf lange Sicht aber trotzdem ein bisschen Zeit. Seit Pokémon-Legenden: Arceus werden sämtliche Kämpfe direkt in der dazugehörigen Spielumgebung ausgetragen, Karmesin & Purpur setzen das nahtlos fort. 

Mit Krokel und Qurtel stehen sich hier zwei Pokémon vom Typ Feuer gegenüber. Der Kampf dürfte sich hinziehen.

Komplett neu ist dagegen die sogenannte Tetakristallisierung, welche die Dynamaximierung (man, sind das Begriffe) von Schwert & Schild ablöst. Anders als dort könnt ihr eure Pokémon nicht mehr auf Knopfdruck wachsen lassen, dafür aber deren Spezialisierungen verstärken. Begleitet wird das Ganze von einem kunterbunten Effektreigen, um den verstärkten Attacken auch optisch einen zusätzlichen Kick zu verleihen. Allerdings dürft ihr diese Fähigkeit immer nur einmalig nutzen und solltet daher gut überlegen, aus welchem Pokémon ihr den größten Nutzen zieht, denn auch ein machterfülltes Wasserpokémon hat Elektroattacken nur wenig entgegenzusetzen. Weil das Spiel aber wie bereits erwähnt nie so anspruchsvoll ist, dass ihr diese Fähigkeit zwingend benötigt, kann sich dieser durchaus taktische Ansatz kaum annehmbar entfalten und bleibt nicht mehr als ein nettes Extras. 

Dank Tetakristallisierung entfesseln unsere Pokémon besonders mächtige Attacken. Die Zuschauer bejubeln das Geschehen voller Begeisterung.

Um sich einen Platz in der Trainerelite zu verdienen, reicht es natürlich nicht aus, immer nur zu kämpfen, auch die Erweiterung der eigenen Sammlung ist wichtig. Wilde Pokémon tummeln sich überall in der Welt, egal ob Wüste, Meer oder Graslandschaft. Einfach wegfangen geht allerdings nicht, stattdessen müsst ihr immer zwangsläufig einen Kampf beginnen, ehe ihr euer Glück mit einem der vielen verschieden starken Pokébälle versuchen dürft. Gelingt es euch aber, euch unbemerkt an das Objekt der Begierde heranzuschleichen, ist euch zumindest der Erstschlag sicher. Insgesamt vierhundert Pokémon warten in Paldea darauf, eingefangen zu werden. Darunter sind viele Neuzugänge, aber auch einige alte Bekannte aus vorangegangen Abenteuern. Zweiunddreißig davon sind editionsexklusiv, können aber wie immer über Tausch ergattert werden. Sonst unterscheiden sich beide Editionen unter anderem bei der Farbe eurer Schuluniform voneinander, außerdem werdet ihr in Karmesin & Purpur von jeweils unterschiedlichen Professoren angeleitet. 

Fast wie früher: Wer ein wildes Pokémon einfangen will, muss es in der Regel zuerst im Kampf schwächen.

Auch dieses Mal könnt ihr euch auf Wunsch mit bis zu drei Mitspielern zusammentun, um euer Können in besonders kniffligen Raids auf die Probe zu stellen. Kommunikation wird dabei vorausgesetzt, denn neuerdings laufen die Kämpfe auch hier in Echtzeit ab, besonders in den höheren Stufen hat ein unkooperatives Team gegen die deutlich hochgepowerten Gegner nur wenig Aussichten auf Erfolg. Das ist dann auch einer der ganz wenigen Momente, wo das Spiel einem wenigstens etwas Können abverlangt. Alternativ könnt ihr euch aber auch einfach in der regulären Welt tummeln und gemeinsam auf die Jagd nach Herausforderern oder wilden Pokémon gehen. Und im Kampfstadion könnt ihr euch echten Trainern aus aller Welt stellen. 

Fear and Loathing in Paldea

Weit schwächer als das Storytelling schneiden die beiden Spiele in Sachen Technik und Performance ab. Detailarme, matschige Umgebungstexturen, wohin man auch blickt. Lediglich die Städte können sich einigermaßen sehen lassen, obwohl man bis auf wenige Ausnahmen keine Gebäude mehr betreten kann, stattdessen öffnet sich bei der Interaktion mit den dazugehörigen Türen nur noch schlichte Menüs. Abseits davon und den noch einigermaßen hübschen Charakter- und Pokémonmodellen ist das Spiel allerdings eine visuelle Katastrophe. Wenn man bedenkt, dass selbst ein über fünf Jahre altes The Legend of Zelda: Breath of the Wild um Welten besser aussieht und gleiches sogar trotz massiver Abstriche für die Portierung von The Witcher III: Wild Hunt gilt, muss man sich hier umso ungläubiger die Augen reiben. 

Die Nintendo Switch bricht unter den Spielen komplett zusammen, mit verheerend negativen Auswirkungen auf den Spielspaß.

Trostlose Landschaften, hässliche Vegetation…man sollte meinen, dass angesichts dessen wenigstens die Performance halbwegs stimmt. Dem ist aber längst nicht so, denn die Bildrate wird besonders beim schnellen Reisen auf Miraidon/Koraidon immer wieder brutal in die Knie gezwungen und bricht auch in bei effektreichen Attacken gerne mal um einige Frames ein. Als wäre das nicht schon schlimm genug, werden beide Spiele auch noch von heftigen Pop-Ins geplagt – sogar noch weitaus schlimmer als bei Sonic Frontiers! Egal ob Bäume, Sträucher und Gräser, wilde Pokémon oder Nicht-Spieler-Charaktere, es gibt quasi kein Element in Karmesin & Purpur, welches nicht mit dramatischer Verspätung in die Spielwelt geladen wird. 

Matschgrafik, wohin man auch blickt. Lediglich die Charaktere sehen hier noch einigermaßen ansprechend aus.

In Kombination mit der ohnehin schon sehr niedrig gehaltenen Auflösung von maximal 720p sind Pokémon Purpur & Karmesin besonders im Dock auf größeren Bildschirmen eine Beleidigung für das Auge. Aber auch im Handheldmodus fällt die schlechte Grafikqualität frappierend auf, hier können die Leistungseinbrüche sogar noch gravierender ausfallen. Man kann das nicht ausschließlich auf die schwache Hardwareleistung der veralteten Nintendo Switch schieben, die ja in der Vergangenheit schon bewiesen hat, dass es auch anders geht. Die Hauptschuld tragen die Entwickler, die sich längst keine Mühe bei der visuellen Umsetzung geben, weil sie wissen, dass sich sowieso alles verkauft, wo auch nur ansatzweise Pokémon draufsteht. Ebenso aber auch teilweise die Käufer, die jedes Mal bedenkenlos zugreifen, ohne sich vorher genauer zu informieren. 

Störende Pop-Ins sorgen dafür, dass die meisten Objekte inklusive Trainer und Pokémon erst spät im Bild aufpoppen.

Dafür geht die Steuerung gut von der Hand, egal ob ihr mit Controller oder Joy-Cons spielt. Die deutschen Texte sind wie immer gut übersetzt worden und nötigen einem schonmal das ein oder andere Schmunzeln ab. Und auch der gewohnt gute Soundtrack kann den Spielen noch ein paar dringend nötige Pluspunkte bescheren, um in unserer Gesamtwertung nicht völlig unterzugehen. Trotzdem möchte ich euch raten, euch im Vorfeld über die Spiele zu informieren, egal wie groß eure Liebe zum Franchise und wie schön die Kindheitserinnerungen daran auch sein mögen. Anderenfalls könnte die Enttäuschung über das Gebotene am Ende nämlich noch weit größer ausfallen, als bei mir. 

„Als unsereins vor Jahrzehnten mit Pokémon Rot und Blau auf dem Gameboy die ersten Schritte in eine ganz neue Welt der Videospielunterhaltung wagte, waren Pikachu und Co. in Japan längst Superstars. Seitdem ist eine Menge Zeit vergangen, längst hat das globale Phänomen zahlreiche neue Generationen in ihren Bann gezogen und rund um die überwiegend putzigen Kreaturen ist ein milliardenschweres Franchise entstanden. Auch die neuesten Ableger Pokémon Purpur & Karmesin werden sich wieder millionenfach verkaufen, daran besteht fast kein Zweifel. Und das macht mich ein bisschen traurig, denn richtig gut sind die beiden Spiele nicht. Neue Ideen bleiben Mangelware und wenn es sie dann doch mal wie im Fall der drei begehbaren Pfade gibt, versauen es die Macher mit langweiligem Spielablauf und künstlichen Grenzen gleich wieder. So richtig gefordert wird man allerhöchstens innerhalb der Raids und auch in Sachen allgemeinem Design hat man schon Besseres gesehen. Das Sammeln und Kämpfen macht zwar immer noch viel Spaß, wenn sich aber die gesamte darum gestrickte Technik als Totalschaden entpuppt, muss selbst treuesten Fans klar werden, dass es so auf Dauer einfach nicht mehr weitergehen kann.“

  • Abwechslungsreiche Areale
  • Hübsche Effekte
  • Ansehnliche Charakter- und Pokémonmodelle
  • Viele gelungene Pokémon-Neuzugänge
  • Ungebrochen spaßiges Sammel- und Kampfprinzip
  • Tetakristallisierung als gutes neues Feature
  • Guter Gesamtumfang
  • Abwechslungsreiche Mehrspielerkomponente
  • Gut lokalisierte deutsche Texte
  • Passender Soundtrack
  • Umfangreiche Tutorials und Hilfstexte
  • Zugängliche Bedienung
  • Schwerwiegende Performanceprobleme
  • Überwiegend triste Texturen
  • Hässliche Vegetation
  • Schwache Beleuchtung
  • Massive Pop-Ins
  • Weitestgehend uninteressante Geschichte
  • Quälend langer Einstieg, besonders für Veteranen
  • Repetive Team-Star-Herausforderungen
  • Spielerische Freiheit wird durch künstliche Grenzen stark eingeschränkt…
  • …was den vielbeworbenen Open-World-Ansatz quasi ad absurdum führt
  • Bis auf ganz wenige Ausnahmen grundsätzlich zu leicht
  • Nur noch wenige Gebäude betretbar

Entsprechende Rezensionsmuster sind uns freundlicherweise vorab von Nintendo Computer Entertainment zur Verfügung gestellt worden.

©2022 M-Reviews.de

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