Genie und Wahnsinn
Falls ihr die letzten vier Jahre unter einem Stein im Wald gelegen habt oder schlicht nicht im Besitz einer PlayStation seid, hier nochmal ein Überblick über die Handlung: Nachdem der mächtige Gangsterboss Kingpin endlich sicher verwahrt im Hochsicherheitsknast sitzt, strömt immer neuer Abschaum ins Herz von New York. Für Spider-Man alias Peter Parker bedeutet das Überstunden zur ungünstigsten Zeit. Die Karriere als Superheld hat ihn bereits die Beziehung mit Mary Jane Watson gekostet, jetzt steht wegen der chronischen Unpünktlichkeit auch noch sein Job als Assistent des visionären Wissenschaftlers Dr. Otto Octavius auf der Kippe. Gemeinsam arbeiten beide an der Entwicklung neuartiger High-Tech-Protesen, ein Durchbruch steht kurz bevor. Daran stört sich vor allem einer: Norman Osborne, lokaler Wirtschaftsmagnat mit dubiosen Verbindungen zur Unterwelt und Bürgermeister der Stadt nutzt seinen Einfluss, um Octavius die Zuschüsse zu streichen.
Während sich Spider-Man mit Mr. Negative und seiner Dämonenbande um eine Superwaffe mit gewaltiger Zerstörungskraft streitet, experimentiert Octavius im Verborgenen an einem Neuralinterface, welches künstliche Gliedmaßen alleine durch Gedankenkraft steuern kann. Das Experiment geht schief, aus Genie wird Wahnsinn und Peters väterlicher Mentor mutiert zum rachsüchtigen Berserker, der nur noch ein Ziel kennt: Rache an Norman Osborne und den Tod aller, die sich ihm dabei in den Weg stellen wollen. Als dann auch noch sämtliche Schwerverbrecher der Stadt aus dem nahegelegenen Superknast ausbrechen und die Stadt in Terror und Zerstörung versinkt, steht die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft plötzlich einer schier unaufhaltsamen Übermacht gegenüber. Und was fast noch viel schlimmer ist: Die Miete ist auch längst überfällig!
Auch auf dem PC gelingt Marvel´s Spider-Man Remastered eine perfekte Fusion von kinoreifer Story mit viel Liebe zur Vorlage und herausragender Spielbarkeit. Gute fünfzehn Stunden dauert ein Durchgang im Schnitt, Komplettisten dürfen noch einige Stunden obendrauf rechnen. Zeit, die wie im Flug vergeht. Hier stimmt wirklich alles: Witz, Action und eine gute Portion Dramatik…so rund fühlt sich selbst manch Beitrag zum Marvel Cinematic Universe nicht an. Zugegeben, die Nebenaktivitäten hätten etwas umfangreicher sein können. Abseits einer Handvoll Zusatzmissionen könnt ihr kaum mehr machen als euch an Collectibles und Forschungsaufträgen abzuarbeiten, eine spielerische Herausforderung stellt das alles jedoch nie dar. Das wiegt vier Jahre nach Release des Originals einfach nochmal ein bisschen heftiger als damals. Dafür hat das Remaster von Anfang an alle drei ehemals kostenpflichtigen Storyerweiterungen an Bord. Inhaltliche Neuerungen dürft ihr euch vom Remaster am PC aber nicht erwarten. Das ist besonders dann zu bedenken, wenn ihr das Spiel bereits kennt und unsicher seid, ob ihr dafür nochmal den Vollpreis auf den Tisch legen wollt.
Nie schwang er schöner
Schon auf der PlayStation 4 war das Spiel eine Augenweide, das Remaster auf der PlayStation 5 spielt dank Raytracing, höheren Auflösungen und Bildraten aber nochmal in einer ganz anderen Liga. Doch selbst das aktuelle Powerhouse von Sony muss sich geschlagen geben, wenn der berühmteste Fassadenkletterer aller Zeiten seine Netze in Richtung PC verschießt. Das liegt primär an drei Aspekten. Erstens: Anders als auf der PlayStation 5 bleiben Texturen dank besserem Filtering auch auf mittlere Distanzen knackscharf. Zweitens: Die Schattenqualität wurde im direkten Vergleich hier nochmal ordentlich aufgebohrt. Und Drittens: Die PC-Version liefert merklich hochwertigeres Raytracing. All das aber eben auch nur, wenn euer Rechenknecht ausreichend Pferdestärken unter der Haube hat – und zwar nicht ausschließlich in Sachen Grafikkarte. Denn hier haben wir es mit einem der heute eher seltenen Fälle zu tun, wo ein Spiel überwiegend abhängiger von der CPU, weniger der GPU ist.
Um Marvel´s Spider-Man Remastered in höchstmöglichen Settings, mindestens stabilen 60 Frames pro Sekunde und nativem 4K bei gleichzeitig aktiviertem DLSS genießen zu können, sollte es schon ein 10900K aus dem Hause Intel oder ein ähnlich leistungsstarkes Gegenstück von AMD sein, außerdem eine Geforce RTX 3080 oder besser. Und selbst dann sollte man es wenigstens beim Raytracing nicht übertreiben und sich mit der zweithöchsten Qualitätsstufe begnügen. Die Entwickler warnen im dazugehörigen Menü sogar explizit davor, hier zu hoch zu pokern. Eine Warnung, die sich in der Praxis in Form gewaltiger Leistungseinbrüche schnell bewahrheitet. Bevor ihr euch jetzt aber gleich von dem Gedanken verabschiedet, das Spiel auf eurem PC überhaupt anständig lauffähig zu machen, will ich gleich Entwarnung geben: Selbst mit Mittelklasserechnern lässt sich das Spiel dank umfangreicher Konfigurationsmöglichkeiten wunderbar spielen, ohne dass man visuell zu große Einbußen hinnehmen muss. Denn selbst auf niedrigen Settings und 1080p sieht die PC-Version immer noch schicker als die ursprüngliche Fassung für PlayStation 4 auf. Mittlere Settings begnügen sich mit einer RTX 2060 inklusive passender CPU, dafür gibt es in etwa die Optik des Performance Modus auf PlayStation 5 inklusive Raytracing.
Letzteres ist auf der PlayStation 5 grundsätzlich unscharf und detailarm. Die Kulisse wird nur sehr rudimentär reflektiert. Das sieht im schnellen Schwingen durch die Häuserschluchten von Manhattan zwar immer noch gut aus – besonders in Kombination mit der schicken Beleuchtung -, wenn man aber mal einen Augenblick verweilt und sich das Ganze aus der Nähe anschaut, werden die Diskrepanzen offensichtlich. Auf dem PC wird die gespiegelte Kulisse sichtbar detaillierter aufgelöst, Fensterscheiben oder nasse Bodenbeläge liefert ein adäquates Spiegelbild der Umgebung samt Passanten und Fahrzeugen. In Kombination mit dem superben DLSS und einer Nvidia-Grafik der Spitzenkategorie entstehen so höchst beeindruckende Ergebnisse, das Spiel gerät zu einem referenzverdächtig Showcase für Raytracing. Aber auch ohne all das ist das Spiel wunderschön, der komplette Verzicht auf Raytracing schaufelt immense Leistungsreserven frei, die bei euch möglicherweise anderweitig besser genutzt werden können. Probiert ein bisschen herum und findet einfach die für euch passenden Settings. Ein gutes Gamepad ist für das Spiel übrigens Pflicht, denn via Maus und Tastatur lässt Spider-Man weder präzise steuern, noch kämpft es sich besonders unterhaltsam!
Höhere Auflösungen und zusätzliche Optionen wie höhere Haarqualität lassen zwar die grandios via Motion Capturing dargestellten Hauptcharaktere noch eindrucksvoller wirken als ohnehin schon, im direkten Vergleich dazu wirken die merklich steifer und detailarm agierenderen Passanten aus nächster Nähe allerdings störender als zuvor. Deren Anzahl lässt sich auf dem PC gemessen an der PlayStation 5 nahezu verdoppeln, was New York authentischer wirken lässt. Was genau die Option für mehr Verkehrsdichte dagegen genau bringen soll, wollte sich mir nicht wirklich erklären lassen – egal, wie ich die Regler hin- und hergeschoben habe, die Resultate blieben immer gleich, selbst auf große Entfernungen. Und auch die Beleuchtung wirkt anders als von den Machern versprochen identisch zur bekannten Kulisse des Remasters auf PlayStation 5. Und ja, ich weiß – darüber kann man streiten. Muss man aber nicht. Mir persönlich gefällt sowohl der aktuelle Look inklusive umgemodeltem Peter Parker als auch die kühleren Visuals der PlayStation 4.
Die im Vergleich zum Rest qualitativ doch arg abfallenden Fußgänger sind jedoch nicht das einzige, was mir beim Test der PC-Version negativ aufgefallen ist. Gelegentlich kommt es zum Beispiel zu unschönen Aussetzern bei Physik und Kollisionsabfrage: Besiegte Gegner verheddern sich in den Kulissen und zucken anschließend unkontrolliert hin und her. Und beim Raytracing fangen in einer Zwischensequenz plötzlich Strumpfhose an, Reflektionen zu produzieren, was in unschönem Glitching mündet. Ferner scheint die Synchronisation nicht komplett zu greifen, unter den Rufen der Passanten herrscht munterer Mischmasch zwischen Deutsch und Englisch, während in einigen Szenen im Vordergrund Deutsch gesprochen wird, im Hintergrund aber ebenfalls wieder Englisch. Ich kann mich nicht erinnern, dass es dieses Problem auf Konsolen auch schon gegeben hätte. Alles in allem sind das Kleinigkeiten, die man mit wenigen Patches aus der Welt schaffen kann. Abseits davon ist Nixxes eine hervorragende Portierung gelungen, die sogar sämtliche Features des DualSense unterstützt, sofern man über so einen verfügt. Lediglich bei den Ladezeiten muss sich selbst die besten NVME geschlagen geben, allerdings nur um zwei-drei Sekunden.
“Selbst im dritten Anlauf hat Marvel´s Spider-Man nichts von seiner ursprünglichen Faszination eingebüßt. Eine filmreife Story, kombiniert mit Edelgrafik, Bombastsoundtrack und tollem Gameplay – Spielerherz, was willst du mehr? Na ja, vielleicht etwas mehr Beschäftigung und Abwechslung abseits der Hauptgeschichte, weshalb es auch am PC nicht für die Höchstwertung reicht. Kleinere Defizite bei den Visuals und ein paar noch zu behebende Bugs tun ihr übriges dazu. Für Kenner taugt der Vollpreistitel aber mangels neuer Inhalte allenfalls als potentes Benchmark für High-End-Hardware. Alle anderen haben dank flexibler Einstellungsoptionen aber spätestens jetzt keine Ausrede mehr, sich nicht in die wohl beste Comicversoftung aller Zeiten zu stürzen. Jetzt noch eine ähnlich gute Portierung von Miles Morales und bin wunschlos glücklich. Diesen Spider-Man muss man einfach lieben!”
PRO:
+ Enthält Hauptspiel inklusive aller Inhaltserweiterungen und Anzüge
+ Insgesamt wunderschöne Grafik
+ Massiv verbessertes Raytracing
+ Höhere Passantendichte hebt Großstadtatmosphäre zusätzlich an
+ Optimierte Haar- und Schattendarstellung
+ Umfangreiche Optionen zur Feineinstellung
+ Zeitlos spaßiges Gameplay
+ Hochflexible Schwierigkeitsgrade
+ Vorbildlicher Controller-Support
+ Nahtlose Unterstützung aller DualSense-Features
+ Umfangreicher Fotomodus
CONTRA:
– Keine neuen Inhalte
– Abseits der Hauptgeschichte wenig zu tun
– Immense grafische Diskrepanz zwischen Passanten und Hauptcharakteren
– Belanglose Knobelspielchen
– Verbrecherjagd wird schnell repetiv
– Für ein im Ursprung vier Jahre altes Spiel zu teuer
– Kleinere Bugs und Glitches
– Irritierender Synchro-Mischmasch
– Mit Maus und Tastatur kaum spielbar
Ein entsprechendes Rezensionsmuster ist uns freundlicherweise vorab von Sony Computer Entertainment zur Verfügung gestellt worden.
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