Facepalm of the Franchise
Seien wir ehrlich: Auch der diesjährige, mit cineastischen Einschlägen versehene Karrieremodus mit Namen Face of the Franchise erfindet das Rad nicht neu. Die Story ist altbekannt. Die Charaktere agieren auf dem Niveau von Groschenromanen. Schon im letzten Jahr mussten wir trotz starkem Einstieg und prominenter Gaststars wie Tye Sheridan einen Platzverweis aussprechen, weil sich die ganze Story relativ zügig in altbekannten Klischees und komplett vorhersehbaren Entwicklungen verhedderte. Das ist in diesem Jahr leider nicht anders, nur mit dem Unterschied, dass die ganze Sache direkt so schwach beginnt, wie sie letztendlich auch endet. Die Reise vom Collegefootballer zum NFL-Allstar folgt im Kern dem gleichen Schema wie immer, wartet dabei aber zu keinem Zeitpunkt mit irgendeiner Form von Spannung auf. Kurzum, wer Madden 22 nur wegen der Story spielen will, wird auch in diesem Jahr unter Garantie eine herbe Enttäuschung erleben.
Auf den Hinterhofplätzen dürft ihr euch dann wahlweise alleine oder zusammen mit einem CoOp-Partner wieder in kurzweilige Partien mit loserem Reglement stürzen und dabei tonnenweise kunterbunte Cosmetics freischalten – wahlweise übrigens einmal mehr gegen Echtgeld, was in dem Fall aber komplett optional ist. Große Veränderungen sollte man in dem Bereich aber nicht suchen, denn der Modus präsentiert sich abseits der zwei neuen Locations und einem etwas gestrafften Fortschrittssystem nahezu unverändert zum Vorjahr, macht aber gerade deswegen auch weiterhin eine Menge Spaß und ist eine prima Abwechslung zum sonst so omnipräsenten Simulationsaspekt des Spiels. Sämtliche Texte, Menüs und Dialoge sind übrigens weiterhin komplett in Englisch, nicht einmal deutsche Untertitel haben die Entwickler integrieren wollen. Dessen sollte man sich im Vorfeld wie immer bewusst sein.
Teammanagement 2.0
Eine der größten Baustellen im Vorjahr war der stetig stagnierende Franchise Modus, in dem ihr euch als Teammanager um sämtliche Aspekte eures bevorzugten Teams kümmern durftet. Darauf müsst ihr natürlich auch dieses Jahr nicht verzichten. Zum Glück hat sich EA Tiburon der umfangreichen Kritik am Vorgänger angenommen und der beliebten Komponente endlich ein längst überfälliges Lifting verpasst. Der Weg zum Super Bowl ist lang und jeder Gegner wartet mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen auf. Um beidem bestmöglich habhaft zu werden, könnt ihr das Training nun flexibel auf das anstehende Match zuschneiden. Habt ihr es beispielsweise mit einer starken Offensive zu tun, kann man die eigene Defense präzise darauf vorbereiten. Natürlich könnt ihr auch wie bisher komplette Einheiten für jeden Bedarf absolvieren, dann riskiert ihr aber, dass eure Spieler entsprechend erschöpft auf den Platz wandern und das bisschen Restausdauer schnell verbraucht ist.
Die Talentbäume der Coaches sind ebenfalls überarbeitet worden und lassen sich jetzt noch besser auf den persönlichen Bedarf der Mannschaft abstimmen. Mit den Offensiv- und Defensivkoordinatoren findet gleichzeitig neues Personal mit komplett eigenen Skilltrees ihren Weg auf unsere Gehaltsliste. Deren Fähigkeiten erscheinen zwar gegenwärtig noch etwas unterentwickelt, dürften aber spätestens im kommenden Jahr nochmal kräftig erweitert werden. Schon jetzt sind die Neuzugänge aber ein weiterer richtiger Schritt in Sachen Handlungsfreiheit. Alles in allem sinnvolle Verbesserungen, die dem Modus viel frischen Wind einhauchen. Hier und da hätte man zwar auch noch ein Stück weiter gehen können, alles in allem ist man aber auf einem guten Weg, um das Franchise wieder konkurrenzfähig zu machen. Ein erfolgversprechendes Unterfangen, sofern die Macher jetzt konsequent weiter am Modus arbeiten und mit dem ganz sicher erscheinenden Madden 23 nicht wieder alles auf Jahre hin schleifen lassen.
Doch es ist wie immer nicht alles gleich Gold, was glänzt. Zum einen werden die zusätzlich angekündigten Verbesserungen beim Scouting erst im September an den Start gehen, zum anderen bleiben die stetig wechselnden Szenarios weiterhin mau und pendeln sich auf ähnlich miesem Niveau wie die Story im Rahmen der Karriere ein. Perfekt ist der Franchise Mode also noch lange nicht.
Pack-Esel
Neben den zahlreichen wiederkehrenden (und überwiegend unverändert aus dem Vorjahr übernommenen) Modi findet sich selbstverständlich auch das Ultimate Team in Madden 22 wieder. Hier muss man sich zuerst durch ein kleines Tutorial spielen, ehe man sich in den gewohnten Kartenkampf stürzen darf. Der präsentiert sich dafür mit einer überarbeiteten Benutzeroberfläche und führt zudem neue Karten ein, mit deren Hilfe ihr die Chemie zwischen Spielern in festgelegten Bereichen kurzzeitig boosten könnt. Dadurch stehen euch bei der Aufstellung gerade mit schlechteren Decks deutlich mehr Optionen zur Verfügung. Die kleinen Verbesserungen täuschen aber nicht darüber hinweg, dass euch ohne den Einsatz von Echtgeld ein quälend langer Weg zum Erfolg bevorsteht und ihr im kompetiven Wettstreit mit zahlungswilligen Spielern kaum eine Chance habt.
Die richtig guten Packs gibt´s sowieso nur gegen Points und die wiederum gibt es nur gegen Bares. Knapp neunzig Euro kostet das teuerste Punktepaket, welches ihr anschließend in einem Satz gegen Premiumkarten tauschen könnt. Ein absoluter Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass man nichts reales in der Hand hält und die komplette Investition spätestens mit den Nachfolger mit einem Schlag vollständig entwertet wird. Leider gibt es immer noch viel zu viele Leute, die für ein paar Klicks im Stream oder schlicht zu bequem sind, ihr Geld ganz einfach im Hinterhof zu verbrennen, so dass das Milliardengeschäft sich für Electronic Arts auch weiterhin lohnen wird. Wir strafen dagegen wie gewohnt wegen Pay-2-Win und Pay-2-Shortcut um insgesamt zehn Punkte in der Gesamtwertung ab.
Zweiklassengesellschaft
Mit dem Erscheinen der neuen Konsolenhardware durften sich Besitzer der Vorgängerversionen für PlayStation 4 und XBOX One im letzten Jahr über ein zeitlich begrenztes Gratisupgrade mit allerlei neuen Features freuen. Neben verbesserter Grafik sorgten der Dynamische Spieltag, Next Generation Stats und eine rundherum optimierte Atmosphäre für merklich realere Spielabläufe. Wer mittlerweile über eine PlayStation 5 oder XBOX Series X|S verfügt, darf sich natürlich auch in diesem Jahr über all diese Vorteile freuen. Warum aber gleichzeitig PC-Spieler einmal mehr komplett leer ausgehen und auf all das verzichten müssen, bleibt mir ähnlich wie bei FIFA schleierhaft. Dort argumentiert man beharrlich, dass man der Spielerschar keine höheren Systemanforderungen zumuten möchte. Hier dagegen heißt es, man hätte zu viel Zeit in die Optimierung des Spiels für die neuen Konsolen investieren müssen und deshalb keine Zeit gehabt, auch den PC entsprechend zu bedienen.
Für mich ist das grober Unfug. Denn die Wahrheit ist wahrscheinlich ganz einfach die, dass der PC eine wesentlich kleinere Käuferschicht anspricht als sämtliche Konsolen. Es lohnt sich dementsprechend einfach nicht, Mehrarbeit in dessen Umsetzung zu investieren. Das KÖNNTE man theoretisch nachvollziehen, würde am lieblosen Aufguss nicht trotzdem ein Vollpreisschild baumeln. Denn gerade die oben genannten Features stellen (abseits der kaum besseren Grafik) wichtige Komponenten dar, um die man hier schlichtweg betrogen wird. Dazu zählt dieses Mal auch die neue Mechanik mit Namen Heimvorteil. Hierbei handelt es sich um neue Modifikatoren, mit denen die einzelnen Partien noch realitätsnaher präsentiert werden sollen. Spielt ihr beispielsweise in Kansas City und steht dabei auch noch dem dazugehörigen Team rund um Starfootballer und Coverstar Patrick Mahomes gegenüber, reagiert das ortsansässige Publikum bei genug aufgebautem Momentum entsprechend auf den Gegner und brüllt uns unter anderem als Gastkontrahenten derart in Grund und Boden, dass man die Kommandos vom Seitenrand im schlimmsten Fall nicht mehr verstehen kann. Sogar die Leistung eurer Spieler kann unter dem Druck der Menge wanken, das zeigt sich dann unter anderem durch ein verwackeltes Bild.
Dann muss man wirklich alles geben, um das eigene Momentum wieder auszugleichen und die Menge wieder zu beruhigen. Die Idee dahinter ist toll und hebt den Realismus wie erwähnt nochmal ein Level höher als die Next-Gen-Version des Vorgängers, bleibt aber wie alle andere Verbesserungen auf dem Platz exklusiv den neuen Konsolen vorbehalten. Dazu zählen neben einem neu animierten Publikum auch die nochmals verbesserten, aber im Kern immer noch extrem ausfallanfälligen Animationen bei der Kollisionsabfrage sowie weiterhin hanebüchene K.I.-Aussetzer. Perfekt ist also auch auf Next Generation bei weitem nicht alles. Technisch und spielerisch wirken PC, PlayStation 4 und XBOX One aber mittlerweile doch ein ganzes Stück veralteter und sind keinesfalls den Vollpreis wert. Hinzu kommt, dass die Kommentatoren über sämtliche Plattformen kaum neue Sätze gelernt haben und mehr oder weniger das abspulen, was man über die letzten Jahre bereits gehört hat. Der gewohnt sehr raplastige Soundtrack bleibt dagegen Geschmackssache. Meinen trifft er allerdings nicht.
Fazit und Wertung
„Müsste ich nur die Version für PlayStation 5 und XBOX Series X|S bewerten, würde das Urteil tatsächlich deutlich milder ausfallen als noch im letzten Jahr. Die seitdem implementierten Verbesserungen heben Realismus und Atmosphäre auf ein bisher ungekanntes Level an und bekommen mit der neuen Heimvorteil-Mechanik in diesem Jahr sogar nochmal ein neues, cooles Feature spendiert – auch wenn immer noch jede Menge Baustellen bei K.I., Animationen und Co. offen bleiben. Hinzu kommen dringend benötigte Erweiterungen im bisher so massiv stagnierenden Franchise Modus. Weil man bis auf letzteres all das aber eben nur auf den neuen Konsolen findet, für die technisch und spielerisch veralteten Versionen auf PC, PlayStation 4 und XBOX One aber trotzdem voll zur Kasse gebeten wird, muss eben auch separat gewertet werden. Deshalb sollte man je nach Plattform genau überlegen, ob Madden 22 eine Anschaffung wert ist.“
PRO:
+ Voll lizensierte NFL – Kader mit regelmäßigen Updates
+ Atmosphärisch gelungene Präsentation
+ Sinnvoll erweiterter Franchise Modus
+ Abwechslungsreiches Angebot verschiedenster Modi
+ The Yard bleibt ungebrochen spaßig
+ Coole Heimvorteil-Komponente (nur PlayStation 5 und XBOX Series X|S)
+ Cross Progression zwischen Ultimate Team, Karriere und The Yard
+ Umfangreiches Tutorials
+ Umfangreiche Tracklist mit vielen namhaften Interpreten
+ Solide (englische) Kommentatoren
+ Saubere Performance auf sämtlichen Plattformen
+ Gute Bedienung via Gamepad
– Schwache, repetive Story ohne jedweden Unterhaltungswert
– Weiterhin nervige Aussetzer bei K.I. und Kollisionsverhalten
– Substories weiterhin ohne Vertonung und zudem extrem hölzern animiert
– Massives Pay-2-Win und Pay-2-Shortcut im Ultimate Team
– Versionen für PC und Last-Generation-Konsolen lassen wichtige Neuerungen vermissen…
– …und sind kaum mehr als ein Rosterupdate zum Vollpreis
– Grafisch wäre vor allem auf Next-Generation-Hardware wesentlich mehr möglich
– Visuelle Qualität der Spieler teils arg schwankend
– Für einen Mindestverkaufspreis zwischen 65 und 80 Euro insgesamt zu wenig Neues
– Kommentatoren haben kaum neue Sätze im Repertoire
– Keine deutsche Lokalisierung
– Teilweise unübersichtliche Menüs
– Fummelige Maus- und Tastatursteuerung (PC)
GESAMTWERTUNG: 5.0/10 (PC, XB1, PS4)
7.0/10 (PS5, XBS)
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